Bremen. Mozart war vier Jahre alt, als sein Vater ihm das erste Mal Klavierunterricht gab. Fortan musste er täglich stundenlang üben. Ein Sprichwort fasst diese vielzitierte Anekdote zusammen, es ist ebenso abgegriffen wie wahr: Übung macht den Meister. Wer Klavier spielen lernen will, der muss investieren: Geduld, Konzentration und viel Zeit. Außerdem Geld für ein Instrument und einen Lehrer. Jedoch machen die Digitalisierung und der Trend zum Selbermachen auch vor dem Musikunterricht keinen Halt: Nicht nur auf Youtube gibt es unzählige Musiker, die mit ihren Videos das Pianospielen vermitteln wollen und Kurse, kostenlos wie kostenpflichtig, verkaufen.
Seit einigen Jahren gibt es nämlich auch Apps, die das Klavierspiel unterrichten: Sie zeigen dem Schüler, welche Töne sie spielen sollen – und korrigieren ihn, falls er eine falsche Taste drückt. Wie funktionieren diese Apps und können sie einen Musiklehrer wirklich ersetzen? Eine dieser Apps ist Flowkey. Es gibt sie für Android oder iOS, sie kann aber auch am Rechner genutzt werden. In der Anwendung kann der Nutzer laut Entwickler nach mehr als 1000 Songs suchen: Pop- und Rockmusik, aber auch nach Weihnachtsliedern oder Stücken aus Jazz und Klassik. Dem Klavierschüler werden zudem Kurse geboten.
In ihnen bekommt er die Spieltechnik erklärt, wie man Noten liest oder sogar Lektionen in der Improvisation. Videos vermitteln die Inhalte: Die obere Bildschirmhälfte zeigt eine Klaviatur von oben und die Hände eines Pianisten, der das Stück spielt. In der unteren Hälfte stehen die Noten. Der Nutzer kann sich das Stück im Video vorspielen lassen, die Handbewegungen beobachten und simultan betrachten, welche Noten gespielt werden. Danach übt er das Stück auf dem eigenen Klavier oder Keyboard im sogenannten Wartemodus: Der Nutzer spielt nach, was im Video demonstriert wurde und die App hört zu. Spielt er den richtigen Ton gespielt, geht es zur nächsten Note.
Mehr als drei Millionen Nutzer hätten sich bei Flowkey registriert, sagt Jonas Gößling, Mitgründer und Geschäftsführer von Flowkey. Hunderttausende aktive Nutzer gebe es, genaue Zahlen veröffentliche das Unternehmen nicht. Ein kleiner Teil der Kurse steht kostenlos zur Verfügung, es gibt acht freie Songs – etwa einfache Klavierbearbeitungen von John Lennons „Imagine“ oder Ed Sheerans „Perfect“ oder das Präludium in C aus dem ersten Band des Wohltemperierten Klaviers von Johann Sebastian Bach. Für die restlichen Inhalte muss der Nutzer ein Abo abschließen: ein Monat kostet 19,99 Euro, sechs Monate 83,99 Euro und ein Jahr 119,99 Euro.
Im Google-Playstore hat die App eine Bewertung von 4,2 von fünf möglichen Sternen bei mehr als 9000 Bewertungen. Flowkey ist nicht die einzige App auf dem Markt: Unter anderem gibt es Simply Piano vom Unternehmen Joytune, Funktion und Preismodell sind ähnlich. Eckart Altenmüller hält von solchen Apps und Lernvideos nichts. Er ist Arzt und Musiker und hat in Hannover das Institut für Musikphysiologie und Musikermedizin aufgebaut, an dem er unter anderem zur Neurophysiologie und -psychologie sowie Lernprozessen bei Musikern forscht.
Die neuen digitalen Möglichkeiten hielten nicht, was sie versprechen, in den Angeboten sehe er Geschäftemacherei. „Wer ernsthaft ein Instrument lernen will, braucht einen Lehrer.“ Dafür gebe es vor allem zwei Gründe: die Qualität des Klangs und die Ausführung der Bewegung. Eine App erkenne nur, ob man die richtigen Tasten gedrückt hat, aber nicht, wie das Ergebnis klingt. Außerdem könnten Bewegungen und Haltungen falsch eingeübt werden.
„Der Anschlag, die Haltung des Handgelenks, die Bewegung des Pedals – so etwas muss von einem Lehrer überwacht werden, der daneben sitzt.“ Fehler in der Anfangszeit seien vor allem problematisch, weil sie später nur sehr schwer korrigiert werden könnten. Diese Bewegungen würden in den Basalganglien, einem Teil des Gehirns, gespeichert, die sehr konservativ seien. „Ich würde davor warnen, mit solchen Systemen das Instrumental zu lernen.“
Die technischen Möglichkeiten seien mittlerweile sogar schon deutlich ausgereifter, als das, was die besagten Apps anbieten: Algorithmen und Künstlicher Intelligenz könnten schon weitaus mehr erkennen. Aber auch das helfe nicht: „Beim Musizieren geht es um emotionale Kommunikation und Ausdruck“, sagt Altenmüller. Dies sei ein komplexer Vorgang. Allerdings könnten Onlinekurse und Videos für den Schüler, der neben dem Unterricht noch weiterlernen will, eine sinnvolle Ergänzung sein. Auch habe Altenmüller Verständnis für diejenigen, für die ein Lehrer zu teuer sei. Er empfehle dann jedoch selteneren Unterricht, aber keinen Verzicht.
„Bei Flowkey geht es darum, den Spaß an der Musik zu entdecken. Wir wollen mehr Menschen motivieren, ein Instrument zu spielen, indem wir den Einstieg vereinfachen“, sagt Gößling zu Altenmüllers Kritik. Es werde in der App die richtige Technik vermittelt, aber es gebe keinen Anspruch, Konzertpianisten auszubilden. Gößling weist daraufhin, dass es darum gehe, den Versuch zu wagen – darauf komme es Flowkey an. Außerdem würden sie viele positive Kommentare erhalten – was etwa ein Blick in Apples Appstore bestätigt: So schreibt ein Nutzer am 2. Dezember etwa: „Nach fast 30 Jahren Pause wollte ich endlich wieder anfangen, Klavier zu spielen. Ein Lehrer macht keinen Sinn, wenn ich mit der Arbeit fertig bin, hat jede Musikschule geschlossen.“
Bis auf einige Kritikpunkte schreibt er: „Alles in allem sehr empfehlenswert!“ Bemängelt wird häufiger die Tonerkennung, die in manchen Fällen offenbar nicht fehlerfrei funktioniert. Gößling weist außerdem darauf hin, dass viele Nutzer ihre Lernfortschritte in den sozialen Medien dokumentieren würden.
Das tut etwa Joanna Donnelly. Auf Twitter hat sie Ende 2019 ein Video gepostet, in dem sie den Anfang des ersten Satzes von Beethovens Mondscheinsonate spielt. Donelly verspielt sich zwar einige Male und stockt oft noch an Stellen, bei denen sie mit beiden Händen gleichzeitig in die Tasten greift. Aber das Stück ist erkennbar und es läuft stellenweise schon sehr flüssig. Was man hier sehe, sei vergleichbar mit dem Fortschritt bei regulärem Unterricht, sagt Gößling.
Die Lern-Apps sind umstritten. Ob Unterricht bei einem Lehrer oder semi-autodidaktisch mit einer App, ob begabt oder untalentiert – der ambitionierte Schüler kommt nicht drum herum, seine Fertigkeiten in Hunderten oder Tausenden Stunden zu trainieren. Eine Abkürzung gibt es nicht, denn: Übung macht den Meister.