Wenn Mama ihr Baby stillt und der ältere Bruder schmollend daneben sitzt. Wenn beim Zubettgehen einer eine Extrakuscheleinheit bekommt und der andere mit wachen Augen daneben liegt. Wenn plötzlich das jüngere Geschwisterchen in den Mittelpunkt rückt und die vertraute Routine aus dem Gleichgewicht gerät: In solchen Momenten wird Eifersucht sichtbar.
„Schon als Theo geboren wurde, merkte man, dass sich für Finn alles verändert hat. Plötzlich musste er teilen – Aufmerksamkeit, Zeit, Nähe“, erzählt Sebastian, Vater von zwei Söhnen im Grundschulalter. „Am Anfang war das noch diffus. Aber als Theo laufen konnte, wurde die Rivalität richtig greifbar.“ Streit gebe es meist, „wenn einer etwas hat, das der andere unbedingt auch will.“
Geschwisterrivalität ist ein altes Thema, doch sie bleibt aktuell. Denn nirgendwo sonst sind Kinder einander so nah wie in der eigenen Familie. Und: Aufmerksamkeit ist in Familien eine begrenzte Ressource. „Man ist ganz dicht beieinander, teilt den gleichen Rahmen“, erklärt René Zimmermann, systemischer Berater und Therapeut im Bremer Wegebereiter Institut. „Es geht um die Zuneigung der Eltern, um Spielzeug, manchmal um die Badezimmerzeit. Später im Leben kann es sogar um die Frage gehen, wer mehr Verantwortung für die Eltern übernimmt – oder wer weniger.“
Streitthema Gerechtigkeit
Wie sehr schon kleine Unterschiede Konflikte auslösen, weiß Marina, Mutter einer zehnjährigen Tochter und eines achtjährigen Sohnes: „Das größte Streitthema bei uns ist Gerechtigkeit. Wenn wir einkaufen, muss immer der gleiche Betrag ausgegeben werden – egal, ob es eine Hose ist oder ein Spielzeug. Alles wird nachgerechnet.“ Ihre Kinder seien da erstaunlich aufmerksam. „Meine Tochter diskutiert dann, mein Sohn hingegen fängt an zu weinen, weil er denkt, er hätte es nicht verdient.“
Zimmermann kennt diese Mechanismen gut: „Unbewusst heizen Mütter und Väter Rivalität manchmal an – durch Vergleiche oder subtile Bevorzugungen. Der Vater, der automatisch mit dem Sohn Fußball spielt. Die Mutter, die lieber mit der Tochter kuschelt. So entstehen Ungleichgewichte, die Kinder spüren, auch wenn es nicht böse gemeint ist.“ Entscheidend sei, so Zimmermann, dass Eltern solche Situationen bewusst reflektieren: „Kinder vergleichen ständig. Wenn sie merken, dass sie weniger Nähe, weniger Zeit oder weniger Ermutigung bekommen, bleibt schnell das Gefühl: Ich bin weniger wert.“ Sebastian bemüht sich deshalb um Ausgleich. „Ich versuche so gut es geht, beiden gerecht zu werden“, sagt er. „Gleichzeitig erkläre ich dem Kind, das sich benachteiligt fühlt, dass es nicht grundsätzlich zu kurz kommt – nur weil der andere gerade mehr hat oder darf.“
Auch im Alltag spielt die unterschiedliche Entwicklung eine Rolle. Marina erinnert sich: „Meine Tochter hat schon mit neun Monaten gesprochen, mein Sohn brauchte Jahre länger und bekam logopädische Förderung. Da darf man die Kinder nicht vergleichen. Sie starten unterschiedlich ins Leben.“ Heute hätten beide ihre Stärken: „Er baut großartig mit Lego, sie ist ehrgeizig in der Schule. Sie selbst sagt manchmal, dass sie gern so gut bauen könnte wie ihr Bruder.“ Sebastian beschreibt Ähnliches: „Theo will seinem Bruder oft nacheifern. Genauso hoch klettern, alles allein machen. Erlauben wir Eltern das nicht, wird er oft wütend, weil er den Grund mit seinen vier Jahren noch nicht richtig versteht.“
Altersgerechte Privilegien
Zimmermann betont: „Wichtig ist, dass Eltern Unterschiede begründen, gerade wenn es um altersgerechte Privilegien geht. Ein Sechsjähriger versteht, dass er noch nicht in die Disco darf, wenn die Schwester mit 16 loszieht. Aber wenn es nur heißt ‚Du bist jünger‘, bleibt schnell das Gefühl: Ich bin weniger wert.“
Für René Zimmermann ist klar: „Es ist nicht die Frage, ob Konkurrenz entsteht, sondern wie. Rivalität kann zerstörerisch werden, wenn Kinder dem anderen nur noch Böses wünschen. Aber sie kann auch anspornen. Geschwister sind die ersten Menschen auf Augenhöhe. An ihnen können Kinder ausprobieren, wie weit sie gehen können – im Streit, im Wettbewerb, in der Versöhnung.“ In seiner Praxis rät er Eltern, nicht jeden Konflikt sofort zu unterbinden: „Lassen Sie Kinder auch mal streiten. Wichtig ist, ob beide auf Augenhöhe sind. Wenn Eltern eingreifen, dann eher mit der Frage: Was bedeutet das für dich? Oft steckt ein guter Grund dahinter – der Wunsch, gesehen und respektiert zu werden.“
Zimmermann beobachtet zudem einen Wandel: „Früher haben Familien viele kompetitive Spiele gespielt – Monopoly, Mensch ärgere dich nicht. Heute gibt es auch kooperative Spiele, bei denen alle zusammen ein Ziel erreichen. Solche Erlebnisse schaffen Verbundenheit und können ein Gegengewicht zur Rivalität sein.“
Trotz aller Reibung sind sich beide Eltern einig: Rivalität ist nicht nur Belastung. „Meine Kinder sind sehr verbunden, sie spielen stundenlang zusammen. Und manchmal stärkt die Konkurrenz sogar ihr Selbstbewusstsein“, sagt Marina. Auch Sebastian beobachtet, dass seine Söhne näher zusammenrücken – trotz oder gerade wegen der Konflikte. Zimmermann bestätigt: „Rivalität enthält Wachstumsimpulse. Wer vom Geschwisterkind etwas lernen will, trainiert Durchhaltevermögen und entwickelt Motivation. Das kann am Ende die Bindung stärken.“ Er schildert eine Szene aus einer Beratung: „Ein jüngerer Bruder erzählte, wie stolz er war, als er endlich mal ein Tor gegen seine älteren Brüder schießen konnte. Für ihn war das ein Riesenerfolg – und ein Erlebnis, das sein Selbstvertrauen nachhaltig gestärkt hat.“
Doch was, wenn die Energie der Eltern erschöpft ist? Wenn die Streitereien einfach zu viel werden? „Wenn man abends nicht mehr weiß, wann man zuletzt, ohne genervt zu sein, ins Bett gegangen ist, ist das ein Signal“, warnt Zimmermann. Dann könne Beratung oder Mediation helfen, um die Dynamik zu entlasten. Eltern, so der Therapeut, müssten nicht alles allein klären. Manchmal helfe ein Blick von außen, um alte Verletzungen aufzuarbeiten – denn manche Konflikte stammten noch aus der Kindheit und wirkten Jahrzehnte später nach. Sebastian sieht es pragmatisch: „Streit gibt es täglich. Aber am Ende lachen die beiden auch wieder miteinander. Und genau das macht Geschwister aus.“