Bremen Stadtteile Osterholz Verden Diepholz Delmenhorst Wesermarsch Oldenburg Rotenburg Cuxhaven Bremerhaven Niedersachsen

Medizinische Versorgung Hausarzt aus Überzeugung

Kaum einen Arzt zieht es auf das Land. Städte und Gemeinden haben große Probleme die die ärztliche Versorgung sicherzustellen. Jeyachandru Emanualyanus hat jedoch mit dem Ziel studiert Landarzt zu werden.
20.01.2019, 21:14 Uhr
Jetzt kommentieren!
Zur Merkliste
Hausarzt aus Überzeugung
Von Marc Hagedorn

Er kennt die ganzen Horrorgeschichten. Dass Landärzte keinen Feierabend haben. Dass die Warteräume der Praxen vor Patienten überlaufen. Dass Hausärzte in Bürokratie ersaufen, und dass Landärzte bei ihren Hausbesuchen über Felder und Wiesen und von Milchkanne zu Milchkanne fahren müssen. Jeyachandru Emanualyanus hat mitbekommen, wie die Gemeinde Rastede händeringend einen Hausarzt sucht, die Einwohner hatten in ihrer Not sogar eigens ein Werbevideo gedreht. Emanualyanus weiß das alles und lässt sich trotzdem nicht abschrecken. „Ich habe genau deshalb mit dem Studium angefangen“, sagt er, „ich will Hausarzt auf dem Land sein. Und ich finde, es gibt gute Gründe dafür.“

Fangen wir mit dem Wartezimmer in der Praxis Niemann/Kleemann in Stuhr-Brinkum an, hier arbeitet Emanualyanus seit vier Monaten, er macht seinen Facharzt. In den ersten zwei Wochen des Jahres waren über 1100 Patienten in der Praxis an der Bassumer Straße. Aber das Wartezimmer ist leer. „Bei uns gibt es keine Wartezeiten“, wird Ose Kleemann später sagen. Die Internistin ist vor acht Jahren bei Jens Niemann, einem Allgemeinmediziner, in die Praxis eingestiegen. Viel Erfahrung, pfiffige Mitarbeiter und eine straffe Organisation sind der Schlüssel dafür, dass es keine Warteschlangen mit ungeduldigen Patienten gibt: feste Termine für Routinekontrollen, viele Lücken im Terminkalender an den Tagen, an denen ein Ansturm droht, zum Beispiel montags. Es funktioniert.

Lesen Sie auch

Bei Niemann/Kleemann mögen sie nicht bedingungslos einstimmen in den Chor derer, die das Gesundheitssystem am Rande des Kollaps‘ sehen. Die Ärzte haben ein paar Gedanken für diesen Pressetermin zu Papier gebracht, eine Auflistung dessen, was gut gelaufen ist in den vergangenen Jahren und eine Aufzählung dessen, was dringend besser werden muss.

Landkreis vergibt Stipendien an Medizinstudenten

Auf der Plus-Seite steht, dass der Landkreis Diepholz seit ein paar Jahren Stipendien an Medizinstudenten vergibt, die sich im Gegenzug bereiterklären, sich später im Landkreis niederzulassen. Emanualyanus war 2012 einer der Ersten, der in den Genuss der Förderung gekommen ist. Er hat in Marburg studiert. 300 Euro gab es im Monat, sechs Jahre lang bis zum Examen, „das hat mir sehr geholfen“, sagt Emanualyanus, er fand es „optimal“, dass er sich keine Sorgen darüber machen musste, dass am Ende des Geldes noch zu viel Monat übrig ist.

Jeyachandru Emanualyanus, dessen Eltern aus Sri Lanka kommen, ist in Bassum geboren, er hat sein Abitur in Syke gemacht. Er erklärt jetzt, warum er schon immer Hausarzt werden wollte: Im Kindergarten habe er am liebsten mit einem Arztköfferchen gespielt, in Syke gab es außerdem einen gewissen Dr. Jochen Pique, und Emanualyanus hat es fasziniert, wie der Mediziner mit seinen großen und kleinen, jungen und alten Patienten umgegangen ist. So wollte er auch werden.

Lesen Sie auch

Jetzt ist er auf dem Weg dorthin. Dass die Kassenärztliche Vereinigung seine Weiterbildung bei Niemann/Kleemann finanziell fördert, steht ebenso auf der Plus-Seite wie die Einführung der VeraHs vor zehn Jahren. VeraHs, kurz für Versorgungsassistentinnen in der Hausarztpraxis, nehmen den Ärzten Arbeit ab, die sie sonst selbst machen müssten, Wunden versorgen oder Blutabnehmen zum Beispiel. Das schafft Freiräume und sorgt für die nächste Überraschung: Emanualyanus sagt, dass er im Jahresschnitt mit einer 40-Stunden-Woche auskomme. Hausbesuche und Bereitschaftsdienste schon inklusive.

Es kommen viele Kilometer zusammen

Wenn Emanualyanus Bereitschaftsdienst hat oder Hausbesuche macht, dann kommen viele Kilometer zusammen, von Varrel bis Syke, von Weyhe bis Seckenhausen. 15 bis 20 Minuten sitzt er dann im Auto, und Zeit ist heute Geld, doch Emanualyanus sagt: „Das macht den Job für mich aus, ich will bei den Menschen sein. Wenn man das abschaffen würde, wäre das sehr schade.“ Hier wird es heikel:

Mit 23 Euro brutto wird ein Hausbesuch vergütet, plus drei Euro Wegegeld, das ist im Vergleich zu den Preisen, die etwa Handwerker allein für die Anfahrt aufrufen, „viel zu niedrig“, sagt Jens Niemann. Er wünscht sich eine Verdoppelung auf 46 Euro, bisher vergeblich, obwohl die Rechnung, die er aufmacht, für die Krankenkassen verführerisch klingen müsste. Weil viele Praxen inzwischen keine Hausbesuche mehr machen, kommt häufig gleich der Rettungswagen und bringt die Patienten in die Klinik. 5000 Euro kostet ein Krankenhausaufenthalt im Schnitt, „wenn Hausärzte konsequent Hausbesuche machten, würde die Einweisungsquote deutlich heruntergeschraubt“, glaubt Niemann. Das würde viel Geld sparen.

Lesen Sie auch

Auch die deutsche Fixierung auf den Numerus Clausus findet Emanualyanus übertrieben. „Die Abi-Note wird zu hoch gewichtet“, sagt er, „du kannst eine 1,0 in der Schule haben, aber das sagt rein gar nichts über deine soziale Kompetenz aus.“ Sozialkompetenz aber hält er für das A und O im Umgang mit den Patienten. Studienplätze mit einer Landarztquote dagegen hält er für eine gute Idee. Bei Emanualyanus ist das Glas eher halbvoll als halbleer, aber er ist nicht naiv, und Jens Niemann und Ose Kleemann können ganz schön schimpfen auf Bundesgesundheitsminister Jens Spahn. Es stimmt ja, es wird viel Geld versenkt im Gesundheitssystem, die Bürokratie nimmt zu, viel „populistischen Unsinn“ werfen die drei Mediziner dem Ministerium vor. „Die Politik sollte uns in Ruhe lassen“, schlussfolgert Niemann.

Ärzteverbund organisiert Bereitschaftsdienst

Was dabei rauskommt, wenn man die Ärzte im Nordkreis Diepholz in Ruhe machen lässt, sieht man am Ärzteverbund Nord, Niemann sitzt dort im Vorstand. Der Verein organisiert den Bereitschaftsdienst außerhalb der Praxiszeiten, bis Harpstedt, Riede, Twistringen und Bruchhausen-Vilsen reicht das Einzugsgebiet. „Das läuft wunderbar“, sagt Emanualyanus. Er kennt seine Bereitschaftsdienste in den Praxen An der Rettungswache in Leeste beziehungsweise im Krankenhaus Bassum für das ganze Jahr, ein bis zwei Einsätze sind es im Monat, „das ist gut strukturiert und gut für die Work-Life-Balance“, sagt er.

Und wo strukturiert und geordnet gearbeitet wird, da sorgen auch unvorhergesehene Ereignisse nicht automatisch für Chaos. An diesem Morgen ist es ein Hilferuf, der kurz für Aufregung sorgt. Eine Reha-Klinik hat einen Patienten nach einem Schlaganfall entlassen. Nun steht der Mann vor seiner Wohnung, er kommt allein die Treppen nicht hinauf. Die Reha-Klinik hatte vergessen, den Pflegedienst pünktlich zu bestellen. Die Mitarbeiter der Praxis Niemann/Kleemann führen ein paar Telefonate, dann ist das Problem gelöst. Emanualyanus sagt, dass es ihm ein gutes Gefühl gibt, zu helfen. Dafür ist er Hausarzt.

Info

Zur Sache

Zwei weitere Bewerber in Rastede

Es tut sich was bei der Suche nach einem Landarzt für die Gemeinde Hahn-Lehmden nördlich von Oldenburg. Das Werbevideo, das die Einwohner gedreht hatten, und die öffentliche Aufmerksamkeit (auch der WESER-KURIER hatte berichtet), die es erregte, haben dazu geführt, dass sich zwei weitere Interessenten für die Stelle bei der Gemeinde gemeldet haben. Zuvor hatte die Verwaltung bereits mit drei anderen Bewerbern gesprochen. Besetzt ist die Stelle noch nicht. Die Zeit drängt: Im Sommer läuft die kassenärztliche Zulassung für eine allgemeinmedizinische Praxis in Hahn-Lehmden ab. Die Gemeinde schaltet deshalb Ende des Monats eine Anzeige im bundesweit erscheinenden Deutschen Ärzteblatt. Hilft das nicht, müssen die Menschen aus Hahn-Lehmden künftig nach Wiefelstede oder Rastede zum Arzt.

Zur Startseite
Mehr zum Thema

Das könnte Sie auch interessieren

Rätsel

Jetzt kostenlos spielen!
Lesermeinungen (bitte beachten Sie unsere Community-Regeln)