Herr Weil, blicken Sie manchmal neidisch auf die CDU im Bund, die durch ihr Vorsitzenden-Casting neuen Schwung in die Partei gebracht hat?
Stephan Weil: Nein, das tue ich nicht. Erstens, weil ich schon aus Prinzip nicht neidisch bin. Aber zweitens auch deswegen, weil ich glaube, dass Frau Kramp-Karrenbauer vor einer schweren Zeit und einer schweren Aufgabe steht. Das war ein harter Richtungsstreit, der sich in dieser Personalentscheidung ausgedrückt hat. Ob es gelingt, die beiden Lager innerhalb der Union zusammenzubringen, ist noch lange nicht entschieden. Für Neid besteht also überhaupt kein Anlass.
Trotzdem ist offensichtlich, dass sich wieder mehr Leute für Politik interessieren und durchaus positiv auf die CDU blicken. Wäre diese Form der Basisbeteiligung nicht auch ein Vorbild für die schwächelnde Bundes-SPD?
Kurzfristig sind steigende Sympathiewerte nichts Besonderes, da hat ja auch die SPD einschlägige Erfahrungen. Aber ob solche Entwicklungen nachhaltig sind, entscheidet sich, auch das wissen Sozialdemokraten am besten, auf einer längeren Strecke. Und die Strecke wird für die Union nicht leicht.
Also keine Urwahl des SPD-Führungspersonals?
Doch, bei mehreren Kandidaten kann das der richtige Weg sein. Ich sitze ja nur hier, weil wir schon vor der Landtagswahl 2013 gemeinsam mit Olaf Lies einen ganz spannenden Mitgliederentscheid innerhalb der niedersächsischen SPD über Parteivorsitz und Spitzenkandidatur durchgeführt haben.
Übrigens war es aus meiner Sicht ein demokratisches Defizit im Entscheidungsprozess der Union, dass die Mitglieder nicht gefragt wurden. Wir haben damals in Niedersachsen gute Erfahrungen mit der Entscheidung durch unsere Mitglieder gemacht. Diese erfolgte allerdings auch auf einer sehr klaren Grundlage, die ich jetzt bei der CDU ebenfalls nicht sehe: Die Beteiligten, also Olaf Lies und ich, haben uns gegenseitig versprochen, dass – ganz egal wer gewinnt – der eine den anderen unterstützt. Und das hält bis heute.
Ihre eigene Bundesvorsitzende ist innerparteilich ziemlich umstritten. Wie lange hält sich Andrea Nahles noch im Amt?
Die SPD weiß doch ganz genau, aus vielen Erfahrungen der Vergangenheit, dass unsere eigentlichen Probleme nicht die Personalfragen sind. Wir haben eine ganze Vielzahl von unterschiedlichen Baustellen. In den Umfragen sagt eine Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger, sie könnten sich vorstellen, auch SPD zu wählen. Aber viele der Befragten sagen auch, sie wüssten derzeit nicht, wofür ganz genau die SPD steht. Wir müssen also sehr hart daran arbeiten, wieder ein klares politisches Profil zu entwickeln.
Wofür steht denn die SPD?
Neben der sozialen Gerechtigkeit vor allem für gesellschaftlichen Zusammenhalt. Gerade im ablaufenden Jahr sind auch bei uns die Zentrifugalkräfte und damit die Ränder stärker geworden. Das ‚Ich‘ nimmt leider zu, das ‚Wir‘ nimmt ab. Zusammenhalt ist aber ein tiefes Grundbedürfnis bei ganz vielen Menschen. Wenn die SPD auf den unterschiedlichen politischen Feldern immer wieder das Miteinander vorantreibt, dann haben wir eine gute Grundlage.
Wo zum Beispiel?
Etwa beim Verhältnis der Generationen. Die Frage, wie schützen wir Arbeitnehmer vor Altersarmut und überfordern dabei nicht die Jüngeren, ist enorm schwierig zu beantworten. Aber wer außer der SPD soll hier gute Antworten geben können?
Das schlechte Bild der SPD und der Volksparteien überhaupt liegt nicht zuletzt am chaotischen Agieren der Großen Koalition im Bund. Hier in Niedersachsen feiern Sie selbst Ihre Groko als tolles Gegenmodell. Hält dieses noch lange?
Ja, da bin ich guten Mutes. Nach einem alles in allem miserablen Jahr 2018, in dem sich die deutsche Politik insgesamt nicht mit Ruhm bekleckert hat, hoffe ich, dass es 2019 auch auf der Bundesebene besser wird. Auf der Landesebene sind wir gut miteinander unterwegs. Es war und ist keine Liebesbeziehung zwischen der niedersächsischen SPD und der niedersächsischen CDU, und es wird auch keine werden. Das muss es aber auch nicht. Wir haben eine sehr vernünftige Grundlage miteinander und liefern Ergebnisse. Das sorgt am Ende auch dafür, dass das Betriebsklima stimmt.
Beim Paragrafen 219a Strafgesetzbuch liegen Sie allerdings weit auseinander. Die SPD plädiert für eine komplette Abschaffung des Werbeverbots für Abtreibungen; die Union möchte lediglich eine Klarstellung. Im Landtag haben die beiden Partner erstmals nicht gemeinsam gestimmt. Ist das keine Belastung?
Nein, im Gegenteil, so etwas hält Politik lebendig. Niedersachsen hat sich letztendlich dann im Bundesrat bei dieser Frage der Stimme enthalten. Wenn die Partner unterschiedlicher Auffassung sind, sieht unsere Koalitionsvereinbarung – wie übrigens alle anderen auch – ein solches Verhalten vor.
CDU-Finanzminister Reinhold Hilbers feilt derzeit an einer Schuldenbremse in der Landesverfassung. Die SPD plädiert eher für Investitionen in kaputte Straßen und Gebäude, weil man damit versteckte Schulden beseitige. Passt beides zusammen?
Das hat nicht direkt miteinander zu tun. Die Schuldenbremse gilt ab 2020 bundesweit so oder so; sie ist im Grundgesetz fixiert. Das Land kann aber innerhalb seiner Grenzen eigene Mechanismen vorsehen, wie dieses Ziel erreicht wird. Wir müssen vermeiden, dass wir bei Wirtschaftskrisen einen harten Bremsvorgang vornehmen müssen. Dies würde nicht nur die Aufgabenerfüllung erschweren, sondern wäre auch kontraproduktiv für die Konjunkturentwicklung. Also geht es darum, zu einer gleichmäßigen Entwicklung mit gleichmäßigen Investitionen für das Land Niedersachsen zu kommen. Wie im Straßenverkehr ist auch in der Finanzpolitik ein Stop-and-go richtig schlecht.
Stichwort Finanzen: Der Landeshaushalt 2019 ist unter Dach und Fach. Welche neuen Großprojekte stehen im nächsten Jahr an?
Gleich mehrere. Unser Masterplan Digitalisierung wird umgesetzt werden. Wir haben uns vorgenommen, bis 2025 in ganz Niedersachsen gigabit-fähig zu werden. Das ist ambitioniert und anstrengend. Im Bereich der Bildung werden wir die bereits eingeführte Gebührenfreiheit für alle drei Kindergartenjahre mit Qualitätsverbesserungen verbinden. Das ist ein Ergebnis des Gute-Kita-Gesetzes von Bundesfamilienministerin Franziska Giffey, das erfreulicherweise noch vor Weihnachten beschlossen worden ist.
Wir sind dabei, überall in Niedersachsen unsere Krankenhäuser zu sanieren. Und natürlich müssen wir unsere Automobilindustrie bei der Transformation unterstützen. Niedersachsen ist das Autoland Nummer eins, aber unserer Leitindustrie stehen extrem anspruchsvollen Zeiten bevor. Dass Hersteller und vor allem auch die vielen Zulieferer dies erfolgreich bewältigen können, ist für die Zukunft unseres Landes von größter Bedeutung. Dies sind nur einige wichtige Beispiele. Ich habe nicht die Befürchtung, dass mir im nächsten Jahr langweilig wird.
Die EU hat gerade beschlossen, den CO2-Ausstoß von Autos drastisch zu senken. Das muss doch Volkswagen, Niedersachsen als 20-prozentigen Anteilseigner und Sie als Aufsichtsrat hart treffen.
Ich sehe diese Entwicklung sehr kritisch. Es gibt große Ziele, aber es gibt keinen Plan und keine Folgenabschätzung. Der Abbau von vielen Tausend Arbeitsplätzen ist auf dieser Grundlage unausweichlich. Davon redet offenbar in Brüssel und Berlin keiner.
Eine große Baustelle sind die Schulen, vor allem die fehlenden Lehrer. Kann mehr Gehalt helfen? Für Grundschullehrer ist eine Besoldungserhöhung von A 12 auf A 13 im Gespräch.
Wir bearbeiten dieses schwierige Thema sehr intensiv. In der Tat möchten wir gerne mehr junge Leute motivieren, Lehrer an Grundschulen, aber auch an Haupt- und Realschulen zu werden. Die Ausbildung dieser GHR-Lehrkräfte dauert mittlerweile genauso lange wie die der Gymnasiallehrer. Wie wir damit umgehen und was uns möglich ist, wird aktuell sehr sorgfältig zwischen Staatskanzlei sowie Finanz- und Kultusministerium beraten. Da werden wir sicher im Laufe des nächsten Jahres unsere gemeinsame Position festlegen.
Welche Probleme sind denn größer, die rechtlichen oder die finanziellen?
Wie immer natürlich die finanziellen. Allerdings ist das Beamten- und Besoldungsrecht ein weites Feld. Da muss man zahlreiche Risiken und Nebenwirkungen bedenken. Aber am Ende geht es um Geld. Wir müssen einfach nüchtern zur Kenntnis nehmen, dass die Phase mit stetig merklich steigenden Steuereinnahmen langsam zu Ende geht. Darüber will ich mich nicht beklagen. Niedersachsen hatte in den vergangenen Jahren einen richtigen Lauf. Aber wir können leider nicht erwarten, dass sich dieser auf Ewigkeit fortsetzt. Wir werden irgendwann weniger zum Verteilen haben; das macht die von Ihnen angesprochenen Themen nicht gerade leichter.
Bereitet Ihnen eine mögliche Kapitalspritze des Landes für die NordLB Sorgen?
Es ist bekannt, dass wir Veränderungsbedarf bei der NordLB haben und wir uns in einem Bieterverfahren für verschiedene Modelle der Neuaufstellung befinden. Als Ministerpräsident des größten Trägers der NordLB tue ich aber gut daran, mir weitere Bemerkungen zu verkneifen und einstweilen den Mund zu halten.
Tun Sie dies auch bei der maroden Marienburg? Der geplante Erwerb des Welfen-Schlosses durch die öffentliche Hand stößt in Teilen Ihrer Partei und Fraktion auf Widerstand. Müssen Sie da nicht geradezu dankbar über das Veto von Ernst August Senior gegenüber den Plänen seines Sohnes sein?
Nein, darüber kann ich nicht froh sein. Das Problem bleibt ja. Die Marienburg hat einen nicht unerheblichen Sanierungsbedarf. Wenn wir keine Lösung für dieses Thema finden, dann wird sie auf Sicht der Öffentlichkeit nicht mehr zur Verfügung stehen. Wir reden über rund 200 000 Besucher pro Jahr. Mir geht es im Kern darum, dass wir diese Burg weiter für die Bürgerinnen und Bürger offenhalten und nicht darum, dem Haus Hannover etwas Gutes zu tun. Keinesfalls übernimmt das Land selbst die Marienburg.
Das Interview führte Peter Mlodoch.
Stephan Weil ist seit Februar 2013 Ministerpräsident in Niedersachsen, nach viereinhalb Jahren Rot-Grün jetzt ein gutes Jahr als Regierungschef einer Großen Koalition seiner SPD und der CDU. Von 2006 bis 2013 war der 60-jährige Jurist Oberbürgermeister von Hannover. Der eingefleischte Fußballfan ist verheiratet und hat einen erwachsenen Sohn.