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Beschädigte Häuser nach Explosion in Ritterhude Wer zahlen muss, wird oft später geklärt

Die Aufräumarbeiten sind in vollem Gange, die Schäden werden von Sachverständigen aufgenommen, doch sicher ist nur eines: Es wird lange dauern, ehe die Anwohner der Kiepelbergstraße in ihre Häuser zurückkehren können.
15.09.2014, 00:00 Uhr
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Von Christian Pfeiff

Die Aufräumarbeiten sind in vollem Gange, die Schäden werden von Sachverständigen aufgenommen, doch sicher ist nur eines: Es wird lange dauern, ehe die Anwohner der Kiepelbergstraße in ihre Häuser zurückkehren können.

Auch Tage nach der Explosion der Chemiefabrik Organo-Fluid herrscht Betriebsamkeit in der Kiepelbergstraße. Rings um die Trümmer der Fabrik tummeln sich Fernsehteams, Versicherungssachverständige, Handwerker und freiwillige Helfer. Bürgermeisterin Susanne Geils spricht in eine Fernsehkamera, gib ihr x-tes Interview dieser Tage.

Dabei gilt ihr Hauptinteresse den Anwohnern, von denen die ersten bereits erste Schritte in Richtung Instandsetzung ihres Zuhauses unternehmen. Inke Blazy, die der Fabrik direkt gegenüber wohnte, spricht mit den beiden Tischlerbrüdern Andreas und Michael Kämena. „Wir waren mit die ersten, die nach der Feuerwehr an Ort und Stelle gerufen wurden, um als prophylaktischen Einbruchsschutz die Fenster zu vernageln“, erklärt Andreas Kämena.

Nun nehmen die Brüder und zahlreiche Kollegen der Handwerkszunft die Instandsetzungen und Wiederaufbauten in der Kiepelbergstraße in Angriff. Dabei erhalten sie derzeit auch Unterstützung durch freiwillige Helfer, die sich über das soziale Netzwerk Facebook solidarisierten (wir berichteten): „Guten Tag. Wir sind die Facebook-Hilfsgruppe, können wir Ihnen irgendwie behilflich sein, irgendwo mit anpacken?“ fragt eine etwa zehnköpfige Gruppe junger Menschen Blazy nach ihrem Gespräch mit den Handwerkern.

Nach kurzem Zögern nimmt die Hausbesitzerin die angebotene Hilfe an, eifrig schaffen die ehrenamtlichen Helfer Schutt und Trümmer aus Gärten und Auffahrten in die dafür bereit gestellten Container. Am Dienstagabend, als die Fabrik explodierte, befand sich Inke Blazy nichts ahnend im Familienurlaub und verdankt diesem Umstand eventuell sogar ihr Leben: Nach ihrer sofortigen Rückkehr stellte sie unter anderem fest, dass sich große Splitter der Frontscheibe wie Speere in ihr Wohnzimmersofa gebohrt haben. „Drei Minuten nach der Explosion bekam ich die ersten Nachrichten auf mein Handy. Darauf haben wir den Urlaub sofort abgebrochen und sind zurück“, beschreibt Blazy.

Zurück in der Heimat stellte die Familie zwar erleichtert fest, dass sich zu diesem Zeitpunkt vorherrschende Internetspekulationen über Giftgasalarm und Hunderte Tote zum Großteil als falsch erwiesen, der Schock über den Anblick des zerstörten Eigenheims sitzt jedoch noch spürbar tief in den Knochen. „Meine erste Reaktion war Verzweiflung. Die Wut kam später“, beschreibt Blazy den Moment ihrer Heimkehr.

Bezüglich der Finanzierung des Wiederaufbaus vertraut die Familie ihrer Versicherung. „Im Grunde müssten sich die Versicherungen ja diese Kosten von der Firma zurückholen können. Wir wissen derzeit allerdings alle noch nicht, wie es um die Firmenversicherungslage steht und was diese übernehmen wird.“

Auch Nachbar Matthias Erdmann, der gemeinsam mit weiteren Anwohnern im Rahmen einer Interessengemeinschaft bereits seit Jahren Bedenken gegen die Präsenz der Firma in unmittelbarer Wohnraumnähe postuliert, ist diesbezüglich skeptisch: „Wir haben damals schon eindringlich gewarnt, dass diese Firma hier nicht hingehört. Nun haben wir zwar die Bestätigung, dass wir damit richtig lagen, befürchten allerdings auch, dass die Firmengeschäftsführung die Geschädigten zumindest zum Teil auf ihren Schäden sitzen lässt.“ Ein Großteil der den Anwohnern entstandenen Schäden dürfte von den jeweiligen Versicherungen übernommen werden: „Das kommt auf die jeweiligen Policen an.“

Diesbezüglich sammelt auch Borut Ovcar schlechte Erfahrungen: Wie auch die umliegenden Häuser ist auch das seiner Familie frühestens in einem halben Jahr wieder bewohnbar. Kosten für eine Interimsunterkunft werden von seiner Versicherung nicht getragen. Auch wenn der Hauseigentümer und Vater einer sechsköpfigen Familie angesichts seiner Situation bewundernswert ruhig und gefasst wirkt, ist ihm die Verzweiflung in diesem Punkt anzumerken: „Wie kann eine Hausratversicherung eine Familie einfach so auf die Straße schicken und ihrem Schicksal überlassen?“, klagt Ovcar.

Dabei schienen die Arbeiten am Eigenheim gerade erst abgeschlossen: „Als wir das Haus gekauft haben, war es in einem ruinösem Zustand. Wir haben die letzten sechs Jahre ständig gearbeitet und auf Urlaub verzichtet, um daraus ein schönes Eigenheim zu machen. Und jetzt das.“ Der Versicherungsgutachter attestierte dem Familienheim sogar einen „wirtschaftlichen Totalschaden“. Statt eines Umzugs oder Neubeginns will jedoch auch Ovcar weiterhin in der Kiepelbergstraße wohnen bleiben, die absolviert geglaubten Arbeiten an dem Haus noch einmal quasi von vorn beginnen. Ein einbestellter Statiker gab für dieses Vorhaben bereits grünes Licht. „Die Aspekte, dass die beiden Firmen nicht mehr da sind und sich auch die Gemeinde zukünftig verstärkt um die Kiepelbergstraße kümmern dürfte, wird sich die Lebensqualität hier auf lange Sicht verbessern. Die nächsten Monate werden allerdings hart.“

Übergangsweise residiert die Familie in einer Wohnung, die ihr durch Ratsmitglied Jürgen Ahlers vermittelt wurde. „Der kümmert sich wirklich rührend und wir sind ihm wirklich von Herzen dankbar“, betont Ovcar, der diesbezüglich auch bereits negative Erfahrungen mit Sensationsmedien sammeln durfte: „Irgendeiner von einem Fernsehteam hat unbemerkt Aufnahmen von uns gemacht und diese so montiert, als würden wir diese Mühen nicht zu würdigen wissen“, gibt der Familienvater zu Protokoll.

Familie Blazy ist derweil vorübergehend bei Freunden untergekommen. Für weitere Anwohner wurden Übergangswohnmöglichkeiten eingerichtet. Wo sich diese befinden, hält die Gemeindeverwaltung jedoch geheim: Diese Information ist nicht für die Öffentlichkeit bestimmt. Mindestens ein halbes Jahr wird es dauern, bis die besonders schwer betroffenen Häuser wieder bewohnbar sein werden. „Es wäre derzeit mein Wunschtraum, dass wir zumindest Weihnachten wieder in unserem Haus feiern können“, hofft Blazy. Die Tischlerbrüder Kämena versuchen zu trösten: „Wenn hier erstmal alles wieder fertig ist, wird die Straße schöner sein als vorher.“

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