Das Telefon klingelt. Wilfried Heitmann, der zwischen 1974 und 1990 mehr als 200 Spiele in der 1. und 2. Fußball-Bun-desliga geleitet hat, nimmt ab, ist sofort im Thema drin. Er soll als Schiedsrichter-Beobachter zur Gehörlosen-Europameisterschaft nach Hannover reisen. Der Verband möchte wissen, welche Partien er besuchen kann. Heitmann schaut kurz in seinen Kalender, schlägt ein paar Termine vor, dann beendet er das Gespräch. Denn der Regierungsschuldirektor im Ruhestand hat sich
mit Jens Hoffmann auf einen Kaffee getroffen.
Herr Heitmann, was macht einen guten Schiedsrichter aus?
Grundvoraussetzung sind natürlich körperliche Fitness und Regelsicherheit. Aber das Entscheidende auf dem Platz ist eine entsprechende Persönlichkeit mit Durchsetzungsvermögen, so dass der Schiedsrichter durch sein Können einerseits und sein Verhalten andererseits die Akzeptanz bei den Spielern gewinnt. Ich selbst habe vorwiegend eine non-verbale Kommunikation bevorzugt, habe viel mit Mimik und Gestik gearbeitet.
Sie waren von 1974 bis 1990 als Schiedsrichter in der 1. und 2. Bundesliga tätig. Das sind 16 Jahre, und es liegt mindestens eine Spielergeneration dazwischen. Man sagt ja, dass jede Generation ihre spezifischen Verhaltensmuster hat. Wie sehr mussten Sie sich in all diesen Jahren umstellen?
Wenn Spieler in der Bundesliga spielen, sind sie immer jung und passen sich den jeweiligen Trends an. Damals war es für uns zum Beispiel nicht einfach, uns auf die berühmte Fallsucht der Spieler einzustellen. Wann war es ein Foul, wann eine Schwalbe? Das hat uns einiges an Kopfzerbrechen bereitet.
Sind die Spieler im Laufe der Jahre immer ausgebuffter geworden?
Eindeutig ja. Sowohl im Fitness- als auch im technisch-taktischen Bereich schreitet die Zeit immer weiter voran, und man lässt sich als Fußball-Profi stets neue Dinge einfallen, um zum Erfolg zu kommen. Ab einer bestimmten Stufe ist fast jedes Mittel recht. Aber es gibt natürlich auch Ausnahmen, doch das ist ein eher geringer Prozentsatz.
Sie sind seit 25 Jahren nicht mehr aktiv, also sei folgende Frage gestattet: Haben Schiedsrichter ihre Lieblinge, Spieler, bei denen Sie genau wissen, dass es mit ihnen keine Probleme gibt?
Ein Schiedsrichter merkt sehr schnell, wie er auf bestimmte Charaktere reagieren muss, aber er muss sich hüten, voreingenommen in eine Partie zu gehen. Das Verhalten jedes Spielers muss immer mit den gleichen Maßstäben beurteilt werden. Für mich war das nie ein Problem. Ich habe nie gewisse Animositäten mit in ein nächstes Spiel genommen.
Weg von den Animositäten, hin zum entgegengesetzten Fall: Die meisten Schiedsrichter kommen aus dem aktiven Fußball und waren meistens auch Fan eines bestimmten Vereins. Wie geht man mit einem möglichen Interessenkonflikt um und wie war das bei Ihnen?
Ich kann mit Fug und Recht sagen, dass ich mich nie für eine einzelne Mannschaft begeistert habe, ich habe den Fußball als solchen gemocht. Ich fand es immer gut, wenn in Deutschland möglichst flächendeckend Vereine vertreten waren. Ich habe zum Beispiel sehr bedauert, dass der Osten der Republik im Profibereich zeitweise sehr ausgedünnt war.
Markus Merk ist von Schalke 04 nach seiner berühmten und letztlich meisterschaftsentscheidenden Freistoß-Entscheidung am letzten Spieltag der Saison 2000/2001 über Jahre abgelehnt worden. Ist Ihnen einmal Ähnliches widerfahren?
Offiziell nicht. Aber ich habe in den 80ern ein Pokalhalbfinale zwischen Bayern und Mönchengladbach geleitet, dass Bayern durch einen Elfmeter in der Verlängerung mit 1:0 gewonnen hat. Danach waren die Gladbacher sehr sauer, obwohl mir keine Fehlentscheidung, auch nicht durch das Fernsehen, nachgewiesen werden konnte. Solange danach die Friedenspfeife nicht geraucht ist, wird ein Schiedsrichter für die Spiele dieser Mannschaft nicht mehr angesetzt. Ich werde aber nie vergessen, dass ich ein halbes Jahr nach dieser Partie bei einem Fußallturnier in Oldenburg gepfiffen habe, bei dem auch Gladbach mitgespielt hat. Der damalige Präsident der Borussia hat mir dort die Hand gereicht und gesagt, dass wir den alten Streit begraben sollten – eine schöne Geste. Ansonsten bin ich aber ohne größere Blessuren durch die Jahre gekommen.
Wie sehr hat Sie in diesem Zusammenhang der Skandal um Robert Hoyzer getroffen, der Fußballspiele nachweislich manipuliert hat und damit eine gesamte Zunft in Misskredit brachte?
Das hat mich sogar doppelt getroffen, weil ich als Mitglied des DFB-Schiedsrichterausschusses hautnah in die ganzen Ermittlungen eingebunden war. Zum anderen hatten wir damals eine Kooperation mit dem NOFV. Wir hatten eine Nordost-Regionalliga und ich war der zuständige Schiedsrichter-Ansetzer. Ich habe in dieser Funktion Lehrgänge geleitet, bei denen auch Robert Hoyzer dabei war. Er war sogar ein Mal hier in Barnstorf, ich kannte ihn also. Ganz ehrlich: Ich hätte mir ein solches Verhalten niemals vorstellen können, das war für mich einfach undenkbar und ich war mehr als schockiert. Selbst in den Gesprächen danach hat uns Herr Hoyzer noch hoch und heilig versichert, dass an der ganzen Sache nichts dran sei. Das war eine riesige Enttäuschung fürs uns alle, dass zum ersten Mal in der deutschen Fußballgeschichte, so weit ich informiert bin, ein Schiedsrichter korrupt war. Den Bundesliga-Skandal Anfang der 70er habe ich zwar miterlebt, aber der war ja auf die Spieler fokussiert.
Sie sind als Schiedsrichter-Beobachter bundesweit, sogar europaweit unterwegs. Haben Sie bei manchen Entscheidungen ein ungutes Gefühl, gerade wenn Sie an die Hoyzer-Geschichte denken?
Wir müssen generell mit Schiedsrichter-Entscheidungen leben. Wer viel pfeift, macht auch mehr Fehler, das ist doch ganz normal. Wir arbeiten im Verband sehr, sehr intensiv an der Fehlerminimierung, und das zahlt sich auch aus. Ein Beispiel: Ich finde es immer wieder faszinierend und eigentlich unfassbar, wie genau Schiedsrichter-Assistenten eine Abseitsposition erkennen, die selbst mittels Zeitlupe kaum zu sehen ist. Das zu trainieren, ist eine fantastische Leistung. Ein extrem hoher Prozentsatz dieser Entscheidungen ist ja richtig, aber was dahintersteckt, können ohnehin nur Leute beurteilen, die es selber mitgemacht haben.
Der Fußball ist im Laufe der Jahre deutlich schneller geworden. Haben es die heutigen Schiedsrichter deshalb schwerer als ihre Generation?
Die Anforderungen an die Schiedsrichter haben im körperlichen Bereich genauso zugenommen wie bei den Spielern. Die Fitness der Spitzen-Schiedsrichter ist enorm. Deshalb ist es für sie heute auch nicht schwieriger, als es für uns früher war.
Muss der Profi-Schiedsrichter her?
Wir haben Profi-Schiedsrichter. Jeder, der erstklassig pfeift, ist Profi. Ich weiß ja, wie der Standard ist, ich bin durch viele Länder Europas gereist, und ich weiß, dass etliche ausschließlich als Schiedsrichter tätig sind. Wir haben in Deutschland ja immer noch die Möglichkeit, in Teilzeit einem Beruf nachzugehen. Das halte ich auch für eine absolute Notwendigkeit. Aber wer das nicht will, kann ja als Profi tätig sein, wobei man mit 47 Jahren, wenn man als Schiedsrichter in Deutschland aufhören muss, noch nicht ausgesorgt hat.
Pfeifen die Schiedsrichter in Deutschland wirklich kleinlicher als international? Sie müssten es doch wissen..
In der Bundesliga wird keinesfalls kleinlicher gepfiffen, das sind Alibi-Argumente.
Und an der Basis? Täuscht der Eindruck oder ist der Ton gerade in den unteren Ligen rauer geworden. Hat die Fairness im Laufe der Jahre gelitten?
Ja, das ist ein Fakt, der nicht wegzudiskutieren ist. Das ist für Schiedsrichter sauschwer geworden. Es gibt welche, die bestimmte Teams gar nicht mehr pfeifen wollen, es gibt aber auch die, denen solche Situationen gerade Spaß machen. Diese Schiedsrichter sind bekannt bei den Mannschaften, die als schwierig gelten, und das Erstaunliche ist, dass sich das Verhalten der Spieler ändert. Die Toleranz ist plötzlich eine andere. Das, was man sich als Schiri an Respekt erarbeitet hat, kann man in die Waagschale werfen.
Das klingt gut, trotzdem klagt das Schiedsrichterwesen über Nachwuchssorgen.
Das ist leider so. Nicht in der Spitze, aber im Amateurbereich. Die Palette an Freizeitmöglichkeiten wird größer, aber die Bereitschaft, sich ein bisschen zu schinden und die Wochenenden zu opfern, geringer.
Bestimmt spielen aber auch besagte Entgleisungen, verbale und körperliche, in den unteren Ligen eine Rolle. Mal ganz direkt gefragt: Müssen junge Schiedsrichter heutzutage Angst haben?
Nein, ganz im Gegenteil. Es wäre aber wünschenswert, dass den Nachwuchsschiedsrichtern ein Pate oder Coach, nennen sie es wie sie wollen, zur Seite gestellt wird, der sie begleitet, mit dem sie sich austauschen können, um ihren Frust loszuwerden. Die jungen Schiedsrichter brauchen Unterstützung.
Was unterstützend wirken könnte, zumindest im Spitzenbereich, sind technische Hilfsmittel, Stichwort Hawk-Eye. Wie stehen Sie dazu?
Das ist ein riesiges Themenfeld, und ich habe überhaupt keine Probleme damit. Als Schiedsrichter ist man letztlich Dienstleister. Und technische Hilfsmittel werden immer dann eingesetzt, wenn man sich davon verspricht, dass die Quote an Fehlentscheidungen gesenkt wird. Und wir als Schiedsrichter haben nicht das Recht zu sagen: Wir wollen nicht, dass die Fehlerquote geringer wird. Wir haben uns den Gegebenheiten anzupassen und sie zu nutzen. Es entsehen dadurch aber erhebliche Kosten. Die Torlinientechnik, das so genannte Hawk-Eye, ist da ein gutes Beispiel. Es kostet 500 000 Euro, und das wird ein Verein in der 2. Liga nie bezahlen können, in der 3. gleich gar nicht. Letztlich ist es auch eine Marketing-Geschichte.
Entwickelt sich der Fußball in die falsche Richtung?
Er hat sich doch immer in die gleiche Richtung entwickelt. Fußball ist Business. Die Vereine sind Unternehmen, die sich des Fußballs bedienen. Aber diese Entwicklung hat doch schon viel früher eingesetzt, schon in den 70er Jahren.
Wenn Sie all das rekapitulieren: Wären Sie lieber in der heutigen Zeit Schiedsrichter in der Bundesliga, oder halten Sie’s mit dem Motto: Früher war’s schöner?
Nein, ich würde wieder eine Schiedsrichter-Laufbahn anstreben, und das mit der gleichen Begeisterung wie damals. Am liebsten mit meinem Erfahrungsschatz von heute, aber das geht ja leider nicht.
Welche Spiele, die Sie geleitet haben, sind Ihnen in Erinnerung geblieben?
Wovon jeder Schiedsrichter träumt – ich habe ein Mal das Deutsche Pokalfinale in Berlin geleitet. 1988 war das. Frankfurt gewann gegen Bochum mit 1:0. Zudem habe ich oft Gladbach gegen Bayern gepfiffen, das waren immer tolle Spiele. Da habe ich noch kartonweise Bilder von. Als Beobachter hatte ich einige schöne Länderspiele oder das Championsleague-Viertelfinale Atlético Madrid gegen FC Barcelona.
Sie leben in Drentwede. Durften Sie eigentlich Werder pfeifen?
Ich habe Werder ein Mal gepfiffen, das war in der Saison 1980/81 in der 2. Bundesliga. Ich bin ja Niedersachse, insofern hätte ich Bremen pfeifen dürfen, aber das vermeidet man dann eher, obwohl es mir egal gewesen wäre.
Sie sind auch für die FIFA gereist. Wie denken Sie im Zuge des Korruptionsskandals über den Fußball-Weltverband und dessen Präsidenten Sepp Blatter?
Diese ganze Geschichte ist derart unappetitlich, sie verträgt sich nicht mit dem ursprünglichen Gedanken des Fair-Play. Aber, wie gesagt: Fußball an der Spitze funktioniert nur noch nach wirtschaftlichen Interessen. Das ist nicht meine Welt. Das ist hässlich und kein Vorbild für die Gesellschaft – eine Katastrophe.
Trotzdem werden Sie sich bestimmt auch privat Fußballspiele anschauen. Auf wen oder was achten Sie primär: auf das Spiel oder den Schiedsrichter?
Auf den Schiedsrichter, zu 90 Prozent (lacht).
Leiden Sie dann manchmal mit Ihren jungen Kollegen mit? Die Bundesliga-Relegation wurde zuletzt durch eine sehr strittige Freistoß-Entscheidung in letzter Minute entschieden. Der HSV glich zum 1:1 aus, gewann in der Verlängerung mit 2:1. Ohne diesen Freistoßtreffer wäre Karlsruhe aufgestiegen. Manuel Gräfe wurde danach in den sozialen Netzwerken übel beleidigt.
Ich gehe da sehr nüchtern mit um. Wenn ein Schiedsrichter eine Entscheidung in einem Bruchteil einer Sekunde trifft, denkt er in dem Moment doch nicht an die Folgen. Wir müssen einfach lernen, auch mit solchen Entscheidungen zu leben.
Eine persönliche Frage: Haben Sie ihr Talent eigentlich weiter vererbt?
Ich habe zwei Söhne und vier Enkelsöhne. Der eine war etliche Jahre als Schiedsrichter tätig, auch als Assistent, der andere hat ein einziges Spiel geleitet und es dann wieder bleiben lassen. Aber ich versuche, zwei meiner Enkel zumindest dahin zu bringen, mal ins Schiedsrichterwesen hineinzuriechen. Aber ich mache das nicht mit Nachdruck. Da muss jeder seine eigenen Erfahrungen machen.
Wenn man so viel wie Sie unterwegs war und ist – wie kann man das mit einer Familie vereinbaren?
Berechtigte Frage. Zu Beginn meiner Laufbahn bin ich noch alleine, also ohne Assistenten angereist. Da habe ich stattdessen Frau und Kinder ins Auto gepackt, und wir haben einen Familienausflug gemacht, immer dorthin, wo ich ein Spiel leiten sollte. Als das später nicht mehr funktionierte, war die Familie aus dem Gröbsten raus. Heutige Schiedsrichter haben es da sicherlich schwerer.
Als was würden Sie sich denn bezeichnen? Als bodenständigen Weltbürger vielleicht?
Weltbürger sicherlich. Ja, und bodenständig auch, ich fühle mich nach wie vor sehr wohl hier in Drentwede. Gerade habe ich für den NFV-Kreistag in Sudwalde zugesagt, da freue ich mich schon drauf.
Was treibt Sie an? Nur der Fußball?
Nein, abseits des Fußballs mache ich bereits seit 1972 Kommunalpolitik, bin in der Samtgemeinde Barnstorf Ratsvorsitzender. Ich war zudem viele Jahre im Kreistag tätig. Jetzt, wo ich mehr Zeit habe, möchte ich mich um eine Verzahnung von kommunalen und sozialen Einrichtungen bemühen. Und ich werde mit meiner Frau einige Reisen unternehmen – im Oktober fliegen wir nach Australien. Ich bleibe ein neugieriger Mensch.