Herr Reck, am 11. September 2001 war auf Schalke alles vorbereitet für ein großes Fußballfest. Wann haben Sie an diesem Tag erfahren, was in New York passiert ist?
Oliver Reck: Gleich nach dem Mittagessen im Mannschaftshotel. Wir saßen mit ein paar Spielern beim Kaffee. Es war noch nicht die Zeit der Smartphones. Im Speisesaal gab es einen Fernseher. Als die Bilder von den Terroranschlägen liefen, hat jeder nur noch dorthin geschaut. Alle waren zutiefst erschüttert. Bis dahin war es für Schalke ein Feiertag: Abends sollte der Verein erstmals in der Champions League spielen, gegen Panathinaikos Athen. Das Stadion war seit Wochen ausverkauft. Wir waren total auf dieses Spiel fokussiert. Plötzlich diese Bilder aus New York zu sehen, hat natürlich alles verändert. Dieser krasse Gefühlsumschwung hat sich bei mir bis heute eingeprägt.
Was war Ihr erster Gedanke?
Für mich war sofort klar, dass es unser Fußballspiel nicht geben wird. Daran habe ich gar nicht gezweifelt. Diese Bilder aus New York waren so elementar, da konnte kein Mensch an Fußball denken. Wir saßen mit ein paar Spielern am Tisch und haben genau darüber gesprochen. Wir hatten eine erfahrene Mannschaft mit vielen Führungsspielern wie Marc Wilmots, Andreas Möller oder Jiri Nemec. Wir haben direkt gesagt: Wie soll heute ein Champions-League-Spiel stattfinden? Das wäre ja Wahnsinn. Die ganze Welt steht still und ist erschüttert – und wir spielen Fußball gegen Athen? Das wäre doch absurd. Es hieß dann aber schnell: Es muss gespielt werden. Für uns war das unvorstellbar. Ein Riesen-Fehler des europäischen Fußballverbandes Uefa.
Wie ging der Nachmittag weiter?
Wir starrten natürlich alle auf den Bildschirm. Jeder wollte wissen, wie es in Amerika weitergeht. Kommen da noch mehr Flugzeuge? Wer ist dafür verantwortlich? Was passiert mit all den Menschen? Kommen noch mehr Anschläge, vielleicht auch in anderen Ländern? Vielleicht auch bei uns? Das waren intensive Gespräche, Fußball war überhaupt kein Thema mehr in der Mannschaft.

Die Spieler von Schalke und Panathinaikos Athen vor dem Anpfiff beim Gedenken an die Opfer des Terroranschlags in den USA.
Der damalige Schalker Manager Rudi Assauer kämpfte stundenlang dafür, das Spiel abzusagen. Was hat die Mannschaft davon mitbekommen?
Assauer saß bei uns vor dem Bildschirm, wir haben die ganze Zeit mit ihm darüber geredet. Wir haben ihm immer wieder die Frage gestellt: Müssen wir spielen? Alle wussten sofort, dass unter diesen Umständen kein Fußballspiel stattfinden kann. Das müsste doch jeder verstehen, glaubten wir Spieler. Die Einzigen, die es nicht verstanden, waren die Entscheider der Uefa. Die wollten ihren Spieltag unbedingt durchdrücken.
Schalke konnte das Spiel nicht absagen, weil die Uefa der Veranstalter war. Erst am nächsten Tag, einem Mittwoch, wurden alle weiteren Spiele abgesagt.
Aber das war viel zu spät. Da hätte man viel schneller reagieren müssen. Am 11. September hätten einfach keine Spiele stattfinden dürfen. Kein Zuschauer, kein Werbepartner, kein TV-Sender hätte irgendwelche Einwände gehabt. Das wäre auch ein wichtiges Zeichen an uns Spieler gewesen. Wir mussten Profis sein, spielen und funktionieren – aber es war uns gar nicht möglich, an Fußball zu denken und uns irgendwie auf dieses Spiel zu konzentrieren. Es war für alle, die an diesem Tag Fußballprofis sein mussten, eine außergewöhnlich schwierige Situation. Erst einen Tag später räumte die Uefa ein, dass sie einen Fehler gemacht hat. Aber da war es für Schalke zu spät.
Schalke verlor das Spiel mit 0:2. Haben sie noch Erinnerungen daran?
Kaum welche, weil es kein echtes Fußballspiel war. An jedem anderen Tag hätten wir Athen geschlagen. So ging irgendein abgefälschter Freistoß des Gegners rein und spät fiel noch das 0:2. Ich glaube, wir haben kein Mal aufs Tor geschossen. Wenn man es rein sportlich betrachtet, was in der Situation aber völlig egal war, dann war Schalke in diesem Wettbewerb der Leidtragende. Das war ja kein richtiges Heimspiel, das war eine Geisterkulisse, die Stimmung im Stadion war verständlicherweise bedrückend. Niemand konnte an Fußball denken mit diesen Bildern vom World Trade Center im Kopf. Als ich dann noch den ausgelassenen Jubel der Griechen nach dem Spiel gesehen habe, da fragte ich mich schon: War es das jetzt wirklich wert, heute Fußball zu spielen? Es fühlte sich alles falsch an. Am Ende ist Schalke nach der Gruppenphase ausgeschieden.
Trainer war Huub Stevens. Er musste die Mannschaft im Laufe des Nachmittags auf ein Fußballspiel vorbereiten. Wie ging das?
Stevens hat alles probiert, das unter diesen Umständen hinzubekommen. Ich wollte nicht in seiner Haut stecken, er hatte auch andere Gedanken im Kopf. Aber er musste Profi sein. Er musste uns erklären, dass wir uns trotzdem auf das Spiel vorbereiten müssen und dass es ein ganz wichtiges Spiel für den Verein wäre. Das war ja auch nicht falsch, es war das erste internationale Heimspiel in der neuen Schalker Arena. Der Trainer hat auch gesagt, wir sollen den Fernseher ausmachen. Wir saßen ja alle unten im Mannschaftshotel vor dem Bildschirm. Aber der Fernseher blieb natürlich an. Was normal war. Wir wollten wissen, was in Amerika passiert.
Zwei Stunden vor dem Spiel fuhr die Mannschaft im Bus zum Stadion. Hatten Sie da noch Hoffnung, dass doch nicht gespielt wird?
Ich hatte bis zum Anpfiff die Hoffnung: Vielleicht musst du heute doch nicht spielen. Im Sinne aller, ich habe weniger an mich gedacht. Eher an die Opfer in Amerika, die aus den Hochhäusern gesprungen waren. An all diese verzweifelten Menschen, die ihr Leben verloren hatten. Man hätte an diesem Abend an sie denken sollen, nicht an Fußball. Auch wenn wir gewonnen hätten: Darüber hätte ich mich nicht eine Sekunde freuen können. Mir wäre es nicht passiert, an diesem Abend über einen Sieg im Fußball zu jubeln.
Vier Tage später stand das Revierderby an. Die Spieler hielten sich bei einer Schweigeminute an den Händen, Schalker und Dortmunder. Nur BVB-Torwart Jens Lehmann machte nicht richtig mit. Wie haben Sie es erlebt?
Dieses Miteinander vor dem Spiel war extrem außergewöhnlich, gerade für das Derby. Aber daran sieht man: Die Terroranschläge in New York waren auch vier Tage später noch bei allen im Kopf. Fußball war Nebensache. Wie Sie richtig sagen: Eigentlich ist es eine Pflicht, bei so einer Geste mitzumachen, aber eine Person hat das etwas boykottiert, das kann ich nicht verstehen, tut mir leid.
Sie haben Hunderte Spiele in Ihrer Karriere erlebt. War das gegen Athen das schwierigste?
Wenn man das Fußballspielen mal weg lässt, war es garantiert der schwierigste Moment. Es war für mich kein richtiges Spiel. Alle, die mit so einer Situation anders umgehen können, die sollen das machen. Ich konnte es nicht. Ich konnte diese Bilder und meine Gefühle nicht unterdrücken. Ein paar Jahre vorher waren wir mit der Mannschaft von Werder Bremen noch im World Trade Center gewesen, wir hatten dort ein Mittagessen. Auch das ging mir durch den Kopf. Vielleicht habe ich auch deshalb emotionaler reagiert. In jedem Fall war es falsch, dass der Fußball damals nicht sofort stillgestanden hat.