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Mordprozess gegen Niels Högel Unbegreifliche Dimension

Für 85 von 100 angeklagten Patientenmorden in Oldenburg und Delmenhorst ist Niels Högel vom Landgericht Oldenburg verurteilt worden. Doch vieles bleibt weiter unklar. Richter Bührmann fand deutliche Worte.
06.06.2019, 18:49 Uhr
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Unbegreifliche Dimension
Von Andreas D. Becker

Delmenhorst/Oldenburg. „Ich hoffte so sehr darauf, dass wir Antworten finden können.“ Es war ein bitteres Resümee, das Sebastian Bührmann, Vorsitzender Richter der Schwurgerichtskammer des Landgerichts Oldenburg, am Donnerstag bei der Urteilsverkündung zog. „Eine Hauptverhandlung ist dann erfolgreich, wenn wir am Ende wissen, was passiert ist, wenn wir sagen können, wir haben verstanden“, sagte Bührmann. Doch das gilt für den Fall Niels Högel nicht. Vieles bleibt weiterhin im Dunkeln, Bührmann sprach vom Nebel, der über dem Verfahren liegt und der nur zum Teil beseitigt werden konnte.

Bührmann sprach Niels Högel für 54 Morde im Klinikum Delmenhorst und 31 Morde im Klinikum Oldenburg schuldig, 85 Morde also. Das bedeutet bei 100 angeklagten Taten aber auch: Es gab 15 Freisprüche, im Zweifel für den Angeklagten eben. Das Gericht konnte nicht anders, dieser Rechtsgrundsatz ist ehern. Auch wenn Högel mit seinen Taten die Würde der Verstorbenen mit Füßen getreten habe, sei ihm trotzdem diese Würde in einem Rechtsstaat von einem Gericht entgegenzubringen, erklärte Bührmann. Alles in allem kommt dieses Urteil nicht überraschend, selbst Högels Verteidigerinnen hatten in 55 Fällen auf Mord plädiert. Am Ende ging es tatsächlich nur noch um die Frage, in wie vielen Fällen wird Högel für schuldig befunden. Da in Deutschland aber immer Gesamtstrafen gebildet werden, lautet das Strafmaß: lebenslänglich. Dabei wurde die besondere Schwere der Schuld erneut festgestellt. Und das Berufsverbot als Kranken- oder Altenpfleger oder Rettungssanitäter bleibt für Högel sein Leben lang bestehen.

Der Tod von 100 Patienten wurde seit dem 30. Oktober 2018 an 24 Verhandlungstagen beleuchtet, an den ersten Prozesstagen wurde Högel zu jedem einzelnen Fall befragt. Oft sagte er nur, dass er sich nicht erinnern könne, aber auch nichts ausschließen wolle. In 43 Fällen gab er zu, den Patienten ein Medikament gespritzt zu haben, um sie an den Rand des Todes zu führen und sie dann wiederzubeleben. „Ich kam mir vor wie ein Buchhalter des Todes“, sagte Bührmann, der in seinem Richterleben schon in viele Abgründe geblickt und viele brutale Verbrechen verhandelt hat. Aber ein Fall dieses Ausmaßes sprenge jegliche Grenzen, sagte der Richter. „Ihre Taten sind unbegreiflich. Es sind so viele, dass der menschliche Verstand vor der Anzahl der Taten kapituliert. Auch Ihre Motivation war nicht zu greifen, wir konnten nicht erkennen, warum jemand das macht.“ Unbegreiflich, das sei das Wort, das dieses Verfahren geprägt habe. Bührmann nannte eine Zahl, um verständlich zu machen, worum es geht: Würde Högel für jeden nun verurteilten Mord nur die bei lebenslanger Haft mindestens abzusitzenden 15 Jahre ins Gefängnis gehen, müsste er 1275 Jahre hinter Gitter. Bührmann betonte mit Blick auf die Hinterbliebenen aber auch: „Lebenslänglich kann auch in Deutschland ein Leben lang bedeuten.“

Bührmann erklärte auch ausführlich, auf welcher Basis das Gericht zur Verurteilung gelangt ist. Er sprch von mehreren Säulen, auf denen das Urteil liege. Unterschiedlich starken Säulen. „Die größte, die stabilste ist dabei das medizinische Gutachten von Professor Koppert gewesen“, sagte Bührmann. Das entscheidende Moment daran war, dass Koppert die Fallakten studierte, bevor die Leichname untersucht wurden. Erst wenn der Sachverständige zu dem Schluss kam, dass der Tod eines Patienten und der Krankheitsverlauf nicht zusammenpassen, wurde eine Exhumierung beantragt und nach einem der von Högel verwendeten Medikamente gesucht. Nicht umgekehrt. Anhand der toxikologischen Befunde hat Koppert dann erst nachträglich seine Einschätzung präzisiert. Eben dieses toxikologische Gutachten war dann die zweite Säule, die das Urteil stabil und revisionssicher machen sollte, führte Bührmann aus.

Instabiler ist da schon die Säule, die sich aus Högels Einlassungen zusammensetzt. Denn auch wenn das psychologische Gutachten Högel attestierte, durchaus nicht immer zu lügen, wurde er im Laufe aller Prozesse gegen ihn schon mehrmals der Falschaussage überführt. Aber auch das hatte Gutachter Max Steller Högel attestiert: eine große Lügenkompetenz. Und vor allem: eine große Bereitschaft zu lügen. „Aber ich habe Ihnen im letzten Prozess schon gesagt: Wenn Sie uns da nicht die Wahrheit sagen, fliegt es Ihnen irgendwann um die Ohren. Und das ist heute der Fall.“

Es war der mittlerweile vierte Prozess gegen Högel: 2006 wurde er in einem ersten Fall wegen versuchten Totschlags in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung zu fünf Jahren Haft verurteilt, wegen der eingelegten Revision wurde der Fall 2008 erneut aufgerollt und endete mit dem Urteil siebeneinhalb Jahre Haft und lebenslanges Berufsverbot wegen versuchten Mordes und gefährlicher Körperverletzung. Zudem erhielt Högel 2015 nach der Verhandlung über fünf weitere Fälle eine lebenslange Haftstrafe bei besonderer Schwere der Schuld und Aufrechterhaltung des lebenslangen Berufsverbots, weil er für zwei Morde, zwei versuchte Morde in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung und einer gefährlichen Körperverletzung für schuldig befunden wurde. Doch trotz dieser mehrmaligen gerichtlichen Aufarbeitung bleibt vieles im Nebel verborgen.

Dass sich der Nebel nicht mehr komplett lichten ließ, lag nicht nur an Högel selbst, sondern auch an der Zeit, die seit der letzten Tat verstrichen ist: Am 24. Juni 2005 starb laut Högels Aussage Renate R. durch seine Hand. Mehr Beweise gibt es nicht, sie wurde eingeäschert. Verurteilt wurde dieser Fall trotzdem, was von besonderer Bedeutung für den Prozess gegen die ehemaligen Delmenhorster Kollegen von Högel sein dürfte. Das Versagen der Staatsanwaltschaft in diesem Fall relativierte Bührmann etwas, weil auch die Ermittler die Dimension von Högels Taten wohl nicht erkannt hätten. Erst seit Ende 2014 hat die Soko „Kardio“ mit immenser Energie versucht, Högels Taten voll umfänglich aufzuarbeiten. „Doch wertvolle Zeit war verstrichen, Beweise vernichtet“, resümierte Bührmann. Ein weiterer Aspekt, der einer umfänglicheren Aufklärung im Wege stand, war das Aussageverhalten vor allem der Oldenburger Zeugen. „Viele offenbarten Erinnerungslücken, vielen glaube ich das auch“, sagte Bührmann. Auch da spielt der Faktor Zeit eine Rolle. „Ich muss aber auch sagen, dass es Unwillen und Vertuschung gab. Schon bei der Polizei war das reduzierte Aussageverhalten der Oldenburger aufgefallen.“

Dass es auch anders geht, zeigten vor allem Zeugen aus Högels Delmenhorster Zeit. Allen voran Schwester Birgit S., die frei erzählte, wie es auf der Intensivstation zuging, die von Mobbing berichtete, auch nach Högels Verhaftung, wenn es darum ging, was man der Polizei erzählen könne. Birgit S. ist eine stille, zurückhaltende Frau, das wurde vor Gericht deutlich, eine, die mit barschen Worten leicht kleinzumachen war. Was in Delmenhorst wohl auch immer mal passierte. „Aber sie ist eine Schwester, die den Menschen im Patienten gesehen hat, die zusammen mit ihnen um deren Leben gekämpft hat“, sagte Bührmann. Ihr war es wichtig, dass auch die Verstorbenen ihre Würde bewahren, sie machte sie schön zurecht, bevor die Angehörigen kamen. Birgit S. war so etwas wie das Gegenteil von Högel. Bührmann zollte ihr höchsten Respekt, auch für den Mut, offen auszusagen: „Was für eine Heldin.“

Das Urteil ist noch nicht rechtskräftig. Es besteht das Rechtsmittel der Revision.

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