Ein schöner Nebeneffekt von Abschiedsspielen ist, dass man die verschiedenen Eskalations-Stufen der Heldenverehrung erleben kann. Wo so viele Werder-Legenden versammelt sind wie nun beim Abschied von Claudio Pizarro, da gibt es eine Menge Applaus von den Rängen – und der fällt in Nuancen unterschiedlich aus.

Grün auf Weiß ist die Werder-Kolumne des WESER-KURIER, in der Chefreporter Jean-Julien Beer einen Blick hinter die Kulissen des Bundesligisten wirft, Zusammenhänge erklärt und die Entwicklungen im Verein einordnet.
Da gibt es den lang anhaltenden Beifall für verdiente Spieler, die so fest zur Werder-Familie gehören wie die Flutlichtmasten zum Weserstadion, und vor deren Erfolgen man sich einfach verneigen muss. Dazu gehören Marco Bode, Thomas Schaaf, Frank Baumann oder Clemens Fritz. Eine weitere Gruppe bilden die Spieler, deren Karriereweg viele gerissene Bänder oder gebrochene Knochen pflastern, weil sie sich ohne Rücksicht auf Verluste für die gute Sache aufopferten: Dieser Applaus ähnelt der Hochachtung für die Veteranen in den USA, bei Werder wird diese Ehre einem Dieter Eilts oder Philipp Bargfrede zuteil.
Wieder anders ist es bei Spielern, die allein schon als schräge Typen Kultstatus erlangten, die aber auch auf dem Spielfeld zuverlässig ablieferten. Ailton, Tim Wiese oder Max Kruse gehören zu diesen Spielern, die nur den Ball berühren müssen, um lauthals angefeuert zu werden. Und dann gibt es eine Kategorie, die schwer in Worte zu kleiden ist. Vielleicht ist es tatsächlich Liebe. Johan Micoud steht dafür, der geniale Mittelfeld-Zauberer aus Werders Doublesaison 2003/04. Als Micoud nun wieder den Rasen betrat, konnte der nicht zur Übertreibung neigende Arnd Zeigler gar nicht anders, als sein Stadionmikrofon zur Seite zu legen und Micoud liebevoll in die Arme zu nehmen. Ein tolles Bild.
Ein schwieriges Gespräch mit seinen Eltern
Jetzt gibt es einen weiteren Spieler in dieser Kategorie: Claudio Pizarro. Wie bei Micoud sind es nicht nur seine Tore oder die geniale Ballbehandlung, die das Publikum schon immer faszinierten. Es ist die gemeinsame Liebe zum Spiel und auch etwas Zwischenmenschliches. Das zeigte sich in einem kleinen Moment bei seiner Ehrenrunde, als Pizarro im Blitzlichtgewitter kurz innehielt, auf die Tribüne schaute und sich verneigte. Eine wunderbare Geste, aber auch eine mit Seltenheitswert im heutigen Fußball.
Nur wenige Augenblicke nach dieser Verbeugung gab es die schönste Umarmung des Tages: Er hatte seine Ehrenrunde beendet, von allen Seiten schallten die „Pizarro“-Rufe durchs Stadion – als der Mann des Abends vor seinen Eltern am Spielfeldrand stand, ihnen tief in die Augen schaute und sie umarmte. Für diese drei Menschen ging hier eine spezielle Geschichte zu Ende, die im heimischen Wohnzimmer in Perus Hauptstadt Lima einst mit einem Kloß im Hals begann.
Claudio Pizarro hat mal davon erzählt. In der kommenden Woche jährt sich „einer der schwierigsten Momente meines Lebens“, wie er das nennt, zum 27. Mal. Kurz nachdem er am 3. Oktober 1995 seinen 17. Geburtstag gefeiert hatte, war es für ihn Zeit, seinen Eltern die Wahrheit zu sagen. Ein paar Turniersiege lagen da hinter ihm, aber nicht im Fußball, sondern im Tennis. Das schien der richtige Sport zu sein für den gut erzogenen Sohn der Familie, die zur gehobenen Mittelschicht gehörte. Das sah vor allem Claudios Mutter so. Fußball? Dann auch noch Profifußball? Das war in Peru eher ein Milieu, und nichts, wovon man in den 90er-Jahren hätte leben können. Claudio hatte schweißnasse Hände, als er seinen Eltern nach dem Schulabschluss sagte, dass er kein Medizin- oder Jurastudium anstrebe, sondern Fußballspieler werden möchte.
Es sei eine grundsätzliche Entscheidung für sein Leben, erklärte er den Eltern, er wolle das unbedingt. Immerhin war er schon Junioren-Nationalspieler im Fußball und eines der auffälligsten Talente des Landes. Aber ob er es raus aus Peru schaffen würde, vielleicht nach Europa, um mit Fußball Geld zu verdienen? Dafür gab es keine Garantie.
Ausreden konnten ihm die Eltern das nicht. Die Mutter machte ihn auf die Gefahren des Milieus aufmerksam, versprach aber ihre Unterstützung. Der Vater, ein früherer Militär-Offizier, der den jungen Claudio zu jedem Training gefahren hatte, stellte zwei Bedingungen: Der Sohn müsse einer Arbeit nachgehen und etwas studieren, bis er einen Profivertrag im Fußball habe. Claudio fügte sich. Er arbeitete in einer Druckerei, wo er half, die Maschinen zu reinigen. Und er belegte einen Kurs in Betriebswirtschaft. Zwei Monate ging das so, länger nicht. Dann war er Fußballprofi bei Deportivo Pesquero in Lima. Und zog los, die Herzen der Menschen im Sturm zu erobern. 27 Jahre später standen Vater, Mutter und Sohn nun im Weserstadion und hörten die „Pizarro“-Rufe. Ein schöner Moment.