Thomas Wolter traute sich kaum ein Wort zu sagen. Als 20-Jähriger war er 1984 zum SV Werder gewechselt, und plötzlich saß er mit Topspielern wie Rudi Völler, Uwe Reinders und Benno Möhlmann in einer Kabine. „Ich war im ersten halben Jahr froh, wenn mich keiner angesprochen hat“, sagt er. „Ich dachte bloß: Bleib unauffällig, dass dich ja keiner sieht.“ Heute kann Wolter über diese Geschichte lachen, er sagt aber auch, dass ihn die vielen neuen Eindrücke damals ziemlich gehemmt hätten. Er kann also sehr gut nachvollziehen, was im Kopf eines Werder-Talents vorgeht, wenn es den Sprung in den Profikader schafft. Und damit dieser Übergang in Zukunft möglichst reibungslos gelingt, hat Werder ein neues Top-Talente-Programm entwickelt – mit Wolter in zentraler Position.
Der Sportliche Leiter des Bremer Nachwuchsleistungszentrums koordiniert das neue Eliteprogramm. Maximal zehn herausragende Spieler aus der U 17, U 19 und U 23 sollen künftig noch intensiver an den Profibereich herangeführt werden. Sie erhalten die Möglichkeit, mit den Sportpsychologen und den Physiotherapeuten der Bundesligamannschaft zusammenzuarbeiten, außerdem absolvieren sie bei Bedarf individuelle Einheiten bei Athletiktrainer Axel Dörrfuß oder spezielle Videoanalysen mit dem Trainerstab der Profis. Die Talente werden also besonders gefördert und lernen gleichzeitig die handelnden Personen im Profibereich besser kennen. „Gerade dieses gegenseitige Kennenlernen ist super wichtig“, sagt Wolter, „nicht nur für den Spieler, sondern auch für den Mannschaftsstab. Die Physiotherapeuten wissen somit viel früher, woran sie mit einem Spieler arbeiten müssen und wo eventuelle Schwachstellen liegen.“
Kohfeldt entwickelte das Konzept
Die Idee für das Top-Talente-Programm hatte Florian Kohfeldt, als er noch Co-Trainer von Viktor Skripnik in der Fußball-Bundesliga war. Kohfeldt stellte bei seinem Wechsel als Trainer vom Nachwuchs- in den Profibereich fest, „dass wir einen Jugendspieler zwar kennen, wenn er zu den Profis kommt. Aber er kennt uns kaum. Vieles ist Neuland für ihn. Was in gewisser Weise gut ist, denn es soll etwas Besonderes sein, bei den Profis dabei zu sein. Aber es ist eben auch ein Hemmnis.“
Im März 2016 hat Kohfeldt, der inzwischen Cheftrainer der U 23 ist, ein Konzept entworfen und mit den Werder-Verantwortlichen zunächst diskutiert und dann auf den Weg gebracht. Zur Saison 2016/2017 wurde erstmals ein Pool mit zehn Talenten zusammengestellt, darunter Niklas Schmidt und Johannes Eggestein, die inzwischen aber den nächsten Schritt gemacht haben und nicht mehr dazugehören. Aktuell sind nach Informationen des WESER-KURIER unter anderem die U 17-Talente Jean-Manuel Mbom und Luca Plogmann dabei, der gesamte Pool soll bis Anfang August stehen. Die Auswahl trifft ein Beratungsgremium aus Mitarbeitern des Nachwuchsleistungszentrums in enger Absprache mit den Trainern der betreffenden Juniorenteams.
Überhaupt ist das Top-Talente-Programm ein großes Gemeinschaftsprojekt. Die individuellen Fördermaßnahmen finden nicht parallel (wie bei früheren Förderprogrammen), sondern ergänzend zum Trainingsalltag statt, weil die Talente nicht aus ihren Mannschaften herausgenommen werden sollen. „Es ist uns wichtig, dass ein Spieler seine Rolle im Team behält und zum Beispiel nach einer Niederlage am Montag bei der Mannschaft ist“, sagt Kohfeldt. Er warnt zudem vor einer zu hohen Erwartungshaltung. Das Top-Talente-Programm sei „keine Garantie dafür, dass die acht bis zehn Teilnehmer am Ende in der Bundesliga spielen, und es ist erst recht kein Ausschlusskriterium für diejenigen, die nicht im Programm sind.“ Auch Wolter spricht von „offenen Gruppen“ und davon, „dass es jeder hinein schaffen kann“. Für ein Jahr werden die Talente ins Programm aufgenommen, danach wird neu bewertet und die Gruppe gegebenenfalls neu sortiert.
Werder ist auf gute Jugendarbeit angewiesen
Nach dem ersten Jahr zieht Wolter ein positives Fazit. Die Spieler würden sich gut betreut fühlen, sagt er. Wolter gibt aber auch zu, dass es hier und da Probleme gegeben hat. Einige Spieler seien über ihre Nichtnominierung verärgert gewesen, „Neid kann da ein Thema sein“, sagt Wolter. „Wir müssen die Spieler also noch besser über unser Programm informieren.“ Es gebe kein „die da oben“ und „die anderen da unten“. Es gehe ausschließlich darum, „Ressourcen aus dem Profibereich für die Nachwuchsarbeit zu nutzen“. Damit am Ende möglichst ein bis zwei Talente pro Saison den Sprung in den Profibereich schaffen.
Genau das ist schließlich ein wichtiger Teil des oft zitierten Werder-Wegs. In Zeiten explodierender Preise auf dem Transfermarkt sind Vereine wie Werder auf eine gute Jugendarbeit angewiesen. „Nicht nur, um Geld zu sparen“, sagt Wolter, „sondern auch, um Einnahmen zu generieren.“ Vorbild für Wolter ist hier unter anderem der SC Freiburg, der kürzlich Maximilian Philipp für geschätzte 20 Millionen Euro an Borussia Dortmund verkauft hat. Bitter für Werder: Philipp wäre vor viereinhalb Jahren beinahe in Bremen gelandet. Der U 21-Nationalspieler, der damals noch bei Energie Cottbus unter Vertrag stand, befand sich bereits in weit fortgeschrittenen Verhandlungen mit Werder, entschied sich am Ende aber für einen Wechsel nach Freiburg.