Davy Klaassen lässt sich meist gut identifizieren, trotz niedriger Temperaturen trägt der Vize-Kapitän im Training häufig knielange Hosen und keine Mütze. Bei vielen anderen Werder-Profis ist es nicht ganz so einfach, sie in den kalten Monaten des Jahres beim Training am Weserstadion zu unterscheiden. Schwarze Mützen, Rundschals oder hochgezogene Kragen lassen viele Spieler gleich aussehen. Doch dann ist da dieser Schlaks, der beinahe alle um Haupteslänge überragt und so immer zu erkennen ist. 1,98 Meter misst Nick Woltemade, 50 soll seine Schuhgröße sein. Und allein das macht ihn zu einem bemerkenswerten Spieler.
Aber da ist natürlich mehr. Vergangenen Freitag reiste Werder ins Trainingslager nach Mallorca, Woltemade war mit 17 Jahren nicht nur der jüngste Spieler des Kaders, er war auch der einzige ohne Profi-Status. Was also ist dran an diesem Hünen mit dem Milchbubi-Gesicht, der so dünne Beine hat, dass man mitunter befürchtet, sie würden bei einem etwas deftigeren Zweikampf einfach durchbrechen?
Schaaf zieht die Fäden
„Nick ist ein Typ, der überrascht“, sagt Thomas Schaaf, der als Technischer Direktor einige Fäden der Nachwuchsförderung in den Händen hält. Dort kommt Woltemade her, mit 17 spielt er in der A-Jugend, ist sogar noch jüngerer Jahrgang. Schaaf gilt als Förderer, bei Woltemades Berufung in den Profi-Kader gegen Ende des vergangenen Jahres soll er Fäden gezogen haben, auch wenn er das nicht bestätigen mag.
Mit der Formulierung „überrascht“ meint Schaaf, dass der erste Eindruck zur Täuschung einlädt. Riesengroß und dürr, so sehen eher Basketballer aus. Und wenn ein Fußballer so groß ist, dann ist das oft einer, der vorne drin steht und den Kopf hinhält, wenn von außen Flanken vor das Tor segeln. Aber so ist es bei Nick Woltemade nicht. Gelernter Stürmer ist er, aber auch eine hängende Spitze oder gar eine Option für das Mittelfeld. „Obwohl er so lang ist, hat Nick unglaublich gute Bewegungen. Er ist technisch stark, ist sehr beweglich, hat ein gutes Spielverständnis. Es sieht elegant aus, wie er am Ball agiert“, sagt Schaaf. Was für ihn, der nicht zum Überschwang neigt, beinahe euphorisch klingt.
Erst Schule, dann Training
Und doch war die Teilnahme am Trainingslager nicht unbedingt zu erwarten. Woltemade trainiert nicht regelmäßig oben, also bei den Profis. „Nick geht sonst tagsüber zur Schule und trainiert abends mit der U 19“, sagt Frank Baumann. Die Belastung, nicht erst seit den vielen Verletzten während der Hinrunde ein großes Thema bei Werder, spielt auch hier eine Rolle, wie der Sportchef erklärt: „Es gibt schon eine gewisse Anpassung durch das Athletiktraining und das Mannschaftstraining im Nachwuchsbereich. Aber wir können ihn im Trainingslager bei den Profis nicht durch alle Trainingseinheiten jagen. Er braucht erst mal eine Anpassung an diese Intensität.“
Deshalb wird Woltemade bei den Einheiten auf Mallorca auch mal herausgenommen, absolviert mit U 23-Spielern Übungen auf dem Nebenplatz, während die Profis intensiver trainieren. Genug Möglichkeiten, um sich zu zeigen, bekommt der Nachwuchsstürmer aber – im Training und auch im Testspiel gegen Monza (2:2). Beim Duell mit dem italienischen Drittligisten spielte Woltemade 50 Minuten lang im Sturm, an der Seite von Claudio Pizarro, der fast 24 Jahre älter ist als er. In einigen Szenen war dabei zu erkennen, dass Woltemade etwas mit dem Ball anzufangen weiß. Er konnte sich in engen Situationen durchsetzen, behauptete auch Bälle, wenn der Gegenspieler in seinem Rücken Druck machte. Nur die absolute Überzeugung und letzte Konsequenz in den Aktionen fehlten dem Youngster noch. Nach einem starken Dribbling wurde sein Schuss abgeblockt, einen aussichtsreichen Konter machte Woltemade durch einen Diagonalpass zum Gegner zunichte.
Echter Bremer Jung
Der Sprung in den Herrenbereich ist für einen Jugendspieler eben sehr groß. In Werders U 19 trifft Woltemade nach Belieben: 13 Tore und vier Torvorlagen bei 13 Einsätzen stehen für ihn in der laufenden Saison der A-Jugend-Bundesliga zu Buche. Für die deutsche U 16- und U 17-Nationalmannschaft hat er schon gespielt. Was Woltemade für Werder-Fans zusätzlich sympathisch macht: Er ist ein echter Bremer Junge. In der Hansestadt geboren, begann der Stürmer bei der TS Woltmershausen mit dem Fußballspielen. Dazu präsentierte er sich in seinem Heimatklub auch als guter Handballer, doch im Fußball waren die Perspektiven besser, denn Werder wollte ihn haben. Also wechselte er früh in den Nachwuchs des Bundesligisten.
Dort ist der Stürmer heute Teil des Toptalente-Programms, mit dem bei Werder Hochbegabte besonders gefördert werden. Wer im Nachwuchs wie gefördert wird, entscheidet ein Gremium des Programms. Neben Schaaf und Thomas Wolter, dem Sportlichen Leiter des Leistungszentrums, sitzen da auch Athletik-Trainer und Physiotherapeuten mit am Tisch und besprechen, was das Beste für die einzelnen Spieler ist. Welche Belastung ist sinnvoll? Welche Pausen? Bei welcher Mannschaft? Das ist ein Prozess, an dessen Ende zu Jahresbeginn für Woltemade die Reise nach Mallorca stand.
Keine Zeit für Experimente
Drei Mal war der Angreifer bereits Teil des Kaders für ein Bundesliga-Spiel, gespielt hat er bisher nicht. Auch für die Rückrunde stehen Woltemades Chancen auf einen Einsatz eher schlecht. Vor Beginn des Trainingslagers hatte Chefcoach Florian Kohfeldt angekündigt, mit den Spielern arbeiten zu wollen, „die diese Rückrunde für uns bestreiten werden“. Zeit für Experimente ist gerade eher nicht, soll das wohl auch heißen. Jetzt sind etablierte Spieler gefragt, die stressresistent sind.
Zur Philosophie, die Werders Nachwuchsabteilung prägt, passt das: So schnell, wie es geht – so lange, wie es braucht. In der Ausbildung von Talenten lasse sich nichts erzwingen, wie Schaaf sagt. Es gehe nicht um kurzfristige Hilfe im Abstiegskampf. „Wir wollen ihn so heranführen, dass er sich langfristig als Profi etabliert.“ Dass das eine dem anderen nicht widersprechen muss, weiß Schaaf. „Wenn seine Qualität reicht und Nick sie jetzt abrufen kann, wird Florian das sehen.“
Ließe Kohfeldt ihn doch bei den Profis ran, würde Woltemade zu den jüngsten Spielern gehören, die je für Werder in der Bundesliga spielten. Dort liegt seit vielen Jahren in der Rangliste jemand vorn, der zu Woltemades größten Förderern zählt: Thomas Schaaf.