Ob er es inzwischen gewaschen oder im Originalzustand gelassen hat, ist nicht überliefert. Auch nicht, ob es auf einem Kleiderbügel hängt oder feinsäuberlich zusammengefaltet ist. Fest steht nur: Ilia Gruev hat es aufgehoben, das Trikot, in dem ihm vor einem halben Jahr ein Meilenstein in seiner Karriere gelungen ist. „Es ist zu Hause in meinem Kleiderschrank“, sagt der Werder-Profi über das Shirt, das er trug, als er während des Zweitliga-Auswärtsspiels bei Schalke 04 sein allererstes (und bis heute einziges) Tor im Profibereich erzielte. „Eine immense Freude“ sei das damals gewesen, erinnert sich Gruev, der mit Werder Bremen am Samstag nun wieder gegen Schalke spielt. Dieses Mal in der Bundesliga und im eigenen Stadion – und vor allem: nicht mehr als Ergänzungskraft, als Talent für die Zukunft, sondern als aktueller Stammspieler. „Ich bin sehr zufrieden“, sagt der 22-Jährige über seinen sportlichen Status quo, was kein allzu großes Wunder ist. Schließlich ist es Gruev gelungen, eine Ankündigung aus dem Sommer schneller wahr zu machen, als er es selbst geglaubt haben dürfte.
Sechs Mal in der Startelf
Es war ein Tag Ende Juni, die neue Saison noch weit weg und das Tor gegen Schalke erst wenige Wochen alt, da gab Werder offiziell bekannt, den Vertrag mit Mittelfeldspieler Gruev vorzeitig verlängert zu haben, was damals allgemein als Erfolg gewürdigt wurde. Immerhin war kurz zuvor auch Spitzenclub Ajax Amsterdam sowie einigen Bundesligisten ernsthaftes Interesse am Bremer Eigengewächs nachgesagt worden. Als Gruev dann, kurz nach seiner Unterschrift bei Werder, vor den Journalisten Platz genommen und seine enge Beziehung zu Club und Stadt erklärt hatte, richtete er den Blick in die Zukunft und sagte, durchaus forsch: „Ich glaube, dass es jetzt erst richtig losgeht für mich. Das soll der Startschuss sein.“ Sätze, die sich rückblickend fast prophetisch lesen. Oder anders ausgedrückt: Fünf Monate nach diesem Startschuss liegt Ilia Gruev ziemlich gut im Rennen.
In den bisher zwölf Ligaspielen kam der Linksfuß nur in einem nicht zum Einsatz (am ersten Spieltag beim VfL Wolfsburg), ansonsten wurde er immer gebraucht. Seit sechs Partien sogar als fester Bestandteil der Startelf. „Das tut mir und meiner Entwicklung natürlich sehr gut“, sagt Gruev, der auf dem Platz mit einer guten Mischung aus Ruhe am Ball, Übersicht und Handlungsschnelligkeit überzeugt. Und der in diesen Tagen auch verbal den richtigen Ton trifft. Einerseits angemessen selbstbewusst („Ich bin nicht überrascht, Stammspieler zu sein. Das war mein Ziel“). Andererseits aber auch angenehm demütig („Ich freue mich über die Wertschätzung des Trainers und weiß, dass ich an meine Leistungen anknüpfen muss“).
Es ist ein Auftreten, das gut ins Bild passt, das viele Menschen bei Werder zeichnen, wenn es um Ilia Gruev geht. Reflektiert, intelligent, aufgeweckt sind einige der Worte, die dann regelmäßig in den Gesprächen fallen – und vielseitig könnte bald als weiteres hinzukommen.
Galt Gruev in der Vergangenheit unter den Trainern Anfang und Kohfeldt in allererster Linie als Sechser, sprich als Mann vor der Abwehrreihe, war es Werders derzeitiger Coach Ole Werner, der den Mann mit der Rückennummer 28 auf etwas offensiverer Position in die Startelf beorderte. „Ilia hat nicht den sofortigen Drang, als Achter immer direkt tief zu gehen, sondern holt sich als zweiter Sechser auch mal die Bälle ab“, erklärte Werner Mitte September nach dem 1:1 in Leverkusen, als der Profi erstmals in dieser Rolle zum Einsatz gekommen war. Auch gegen Gladbach (5:1), Hoffenheim (2:1) und Mainz (0:2) fungierte Gruev in der Folge als eine Art Taktgeber, ehe er zuletzt gegen Freiburg (0:2) und Hertha (1:0) wieder als Sechser gebraucht wurde. „Die Sechs ist meine Stammposition“, sagt er – und lässt dann schnell einen Satz aus dem Lehrbuch für Fußballersätze folgen: „Das Wichtigste ist aber natürlich, dass der Trainer mich überhaupt aufstellt. Egal, ob auf der Sechs oder auf der Acht.“ Zuletzt hat Gruev in beiden Rollen reichlich für sich werben können.
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Die ansteigende Formkurve des 22-Jährigen ist dabei auch einem Ex-Werder-Profi nicht verborgen geblieben. Seit Juli ist Mladen Krstajic, einer der Bremer Double-Helden von 2004, als Nationaltrainer Bulgariens im Einsatz, im September verhalf er Gruev zu dessen ersten beiden A-Länderspielen. Erst 71 Minuten in der Nations League gegen Gibraltar, dann sogar die vollen 90 in Nordmazedonien. „Das hat auf jeden Fall dazu beigetragen, dass mein Selbstvertrauen größer geworden ist“, sagt Gruev, „von der Nationalmannschaft wiederzukommen, pusht einen definitiv nochmal“. Vielleicht sogar noch etwas mehr als das allererste Tor im Profibereich.
Es ist jedenfalls gut möglich, dass sich inzwischen auch ein Bulgarien-Trikot neben dem Shirt aus dem Schalke-Spiel in Ilia Gruevs Kleiderschrank befindet.