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Werder-Kolumne Warum Gruev die größte Überraschung bei Werder ist

Mit einem Stammspieler Ilia Gruev hätten in dieser Saison nicht viele Fans gerechnet. Doch der Jungprofi hat sich die Rolle verdient, meint Jean-Julien Beer. Der Mittelfeldspieler hat andere Talente überholt...
01.11.2022, 16:21 Uhr
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Warum Gruev die größte Überraschung bei Werder ist
Von Jean-Julien Beer

Diese eine Szene bei Werders Heimsieg gegen Hertha sagt viel aus über den jungen Ilia Gruev. Schreiend vor Schmerz war er zur Seitenlinie gehumpelt, um seinen verletzten Fuß versorgen zu lassen. Direkt vor der Auswechselbank zog er den linken Schuh und die blutverschmierte Socke aus, die Mediziner behandelten die klaffende Wunde – während Gruev sich vor Schmerzen auf die Zähne biss und mit verzerrtem Gesicht ins Publikum starrte. Genau jetzt befand der Vierte Mann im Schiedsrichtergespann, dass diese Behandlung ein paar Zentimeter zu nah am Spielfeld passierte und forderte Gruev und die Mediziner auf, dort gefälligst Platz zu machen.

Dieser „Vierte Offizielle“ hätte auch bei Bonduelle Karriere machen können, als Erbsenzähler. Nach wenigen Sekunden jedenfalls kam er schon wieder an mit dieser Forderung, was sogar dem sonst so ruhigen Gruev zu viel wurde: Wie ein blutender Flamingo balancierte der 22-Jährige auf dem gesunden Bein, drehte sich leicht zum Schiedsrichter-Gehilfen hinüber und machte mit einer wütenden Handbewegung klar, dass er hier nicht aus Spaß stehe. Schließlich zog er sich an und lief zurück aufs Spielfeld. Was zweierlei zeigte: Der oft unscheinbar wirkende Gruev ist nicht nur hart im Nehmen, er lässt sich auch nicht alles gefallen.

Das passt zu dem Ilia Gruev, den man im Nachwuchsleistungszentrum des SV Werder kennt. 2015 war er hier zu den B-Junioren gekommen, nur wenige Jahre später führte er Werder in der A-Junioren-Bundesliga als Kapitän aufs Feld. 2019 unterschrieb er seinen ersten Profivertrag. Dass er länger auf den Durchbruch warten musste, lag auch daran, dass er im Training der Profis schmächtig wirkte. Seine feine Technik war immer zu erkennen, aber der damalige Trainer Florian Kohfeldt wollte den Jungprofi reifen lassen und nicht zu früh bringen.

In seinem ersten Profijahr arbeitete auch noch sein Vater als Co-Trainer an Kohfeldts Seite. Der Senior heißt auch Ilia Gruev und war selbst Fußballprofi. Ob diese Konstellation bei Werder gut oder schlecht für den Junior war, darüber lässt sich streiten. Seit der Vater den Verein verlassen hat (er arbeitete zuletzt bei Arminia Bielefeld), kommt der Junior jedenfalls gut voran. In Werders Abstiegssaison stand er nur eine Minute auf dem Feld, in der zweiten Liga nutzte er den Ausfall von Christian Groß: Im Herbst 2021 stand Gruev sieben Spiele in Folge in der Startelf. Leider waren es die Spiele, in denen bei Werder einiges ins Wanken geriet, bevor Markus Anfang wegen des Impfskandals aufgab.

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Unter Ole Werner saß Gruev zunächst draußen, weil der neue Trainer auf erfahrene Profis setzte, damit sieben Spiele in Folge gewann und so den Aufstieg schaffte. In der Bundesliga hätte wohl niemand den jungen Gruev als Stammspieler erwartet – doch das ist er nun seit Werders 1:1 in Leverkusen im September. Insgesamt war er schon in elf Spielen dieser Saison dabei, meistens im defensiven Mittelfeld, aber während der Partien auch mal offensiver. Bei Bedarf kann er auch hinten in der Kette helfen. Sein größtes Plus: die Laufstärke gepaart mit einer Dynamik in den ersten Aktionen. Er gewinnt den Ball und leitet sofort den Gegenangriff ein. Fehlt die Anspielstation, sprintet er mit dem Ball nach vorne und öffnet so Räume für die Mitspieler. Er ist nicht so erfahren wie Christian Groß auf dieser Position, dafür aber handlungsschneller. Im Prinzip ist er von der Sorte Spieler, die Groß gerne zu Fall bringt, wenn sie im gegnerischen Trikot durchs Mittelfeld sprinten.

Natürlich sind Gruevs Leistungen schwankend, was bei einem jungen Spieler mit wenig Bundesliga-Erfahrung normal ist. Aber er reift schneller als erwartet: Im September debütierte er in der bulgarischen Nationalmannschaft, und bei Werder hat er größere Talente überholt. Ob Eren Dinkci, Nick Woltemade oder Felix Agu – viele hätten diesen Jungprofis eher den Durchbruch zugetraut als Gruev, zumal dessen Aufgaben im zentralen Mittelfeld viel prägender sind für Werders Spiel.

Im Moment erfährt die seit Jahren spürbare Sehnsucht nach einem zukunftsfähigen „Sechser“ bei Werder eine überraschende Wendung: In dem Verein, der von Abräumern wie Dieter Eilts, Frank Baumann, Torsten Frings oder Philipp Bargfrede geprägt wurde, könnte Ilia Gruev in diese Rolle wachsen. Man sollte ihn jedenfalls nicht unterschätzen: Würde ein Neuzugang so spielen, kämpfen und passen, würde man von einem guten Griff sprechen. Jetzt liegt es an Gruev, wie die schöne Geschichte vom Eigengewächs bei den Profis weitergeht.

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