Seit vielen Jahren schon hatte der SV Werder Bremen vergeblich nach einem neuen Mann fürs defensive Mittelfeld gefahndet – in diesem Sommer ist der Verein nun endlich fündig geworden. Senne Lynen wechselte für zwei Millionen Euro Ablöse vom belgischen Klub Union Saint Gilloise an den Osterdeich. Im Interview mit der Deichstube hat der 24-Jährige über seine Eingewöhnungszeit in Bremen und einen magischen Abend in Berlin gesprochen – und erklärt, warum Bastian Schweinsteiger früher einer seiner Lieblingsspieler war.
Herr Lynen, viele Werder-Fans haben sich gewundert, dass Sie in Freiburg zunächst nur auf der Bank saßen, obwohl Sie in der Vorwoche ein starkes Debüt gegen die Bayern gefeiert hatten. Wie hat Trainer Ole Werner Ihnen die Entscheidung erklärt?
Er hat es mit mir in den Tagen vor dem Spiel klar besprochen, auf eine angenehme und zugewandte Art. Es ging darum, dass er sich noch nicht entschieden hatte, in welcher Formation und mit welcher Taktik er Freiburg erwartet. Während der Vorbereitung hatte das Team viele verschiedene Dinge ausprobiert. Deswegen wollte der Trainer mit Grosso (Christian Groß, Anm. d. Red.) auf der Sechs beginnen, weil er alle Abläufe bei uns bestens kennt. Das kann ich nach ein paar Wochen so natürlich noch nicht. Für mich hat die Entscheidung absolut Sinn ergeben, auch wenn ich natürlich gerne von Anfang an gespielt hätte.
Wie viel von Ole Werners Fußball-Idee haben Sie denn schon verinnerlichen können?
Es läuft gut und geht voran. Mein Vorteil ist, dass ich die deutsche Sprache einigermaßen verstehe, was mir bei den Taktikbesprechungen und Videoanalysen sehr hilft. Das meiste verstehe ich, und den Rest kann ich mir über eine gewisse Fußball-Cleverness erschließen (lacht). Es ist aber schon ein anderer Spielstil, als ich ihn aus Belgien gewohnt bin. Ich will ihn, so schnell es geht, lernen und natürlich auch mein Deutsch verbessern.
Nehmen Sie dafür Sprachunterricht?
Ja, damit geht es bald los. Wie gesagt: Das Verstehen klappt schon ganz gut, weil die deutsche Sprache einige Gemeinsamkeiten mit der niederländischen hat. Meine Muttersprache ist Flämisch. Ganze Sätze auf deutsch zu bilden, ist aber nochmal etwas anderes.
In Werders defensivem Mittelfeld gibt es den Routinier Christian Groß und das Talent Ilia Gruev. Wie sortieren Sie sich da als Spielertyp ein? Irgendwo dazwischen?
Da ich 24 Jahre alt bin und im Februar 25 werde, bin ich definitiv kein Talent mehr. Die Zeiten sind lange vorbei (lacht). Ich denke, dass ich für mein Alter schon relativ viel Erfahrung gesammelt habe, in verschiedenen Ligen und auch in internationalen Wettbewerben. Vielleicht stehe ich in meiner Karriere gerade tatsächlich genau zwischen dem Status als Talent und dem als Routinier.
Haben Sie ein fußballerisches Vorbild?
Eigentlich nicht so richtig. Aber wenn ich an die Bundesliga denke, hat mir früher immer Bastian Schweinsteiger am besten gefallen. Auch wenn er – anders als ich – kein klassischer Sechser war. Ich schaue sehr viele Fußballspiele und achte besonders darauf, was die jeweiligen Sechser machen, wie sie sich auf dem Platz verhalten. Das eine Vorbild habe ich dabei aber nicht.
Was hat Ihnen denn an Schweinsteiger so gut gefallen?
Schwer zu sagen, denn die Zeit liegt schon lange zurück. Damals war ich sehr jung, etwa zehn Jahre alt. Ich fand ihn einfach cool. Vor allem natürlich seine Art, Fußball zu spielen (lacht).
Sie sind 1999 in Antwerpen geboren. Wie sind Sie zum Fußball gekommen?
Als ich vier Jahre alt war, ging es los. Ganz klassisch im Dorfverein bei uns vor der Tür, bei Borsbeek Sport, in der untersten Liga. In jeder Saison haben wir ein Freundschaftsspiel gegen Royal Antwerpen gemacht. Da bin ich anscheinend irgendwann aufgefallen, weshalb Antwerpen mich zu einem Turnier eingeladen hat. Auf diese Weise bin ich im Verein gelandet.
Es folgten Stationen in den Nachwuchsteams des KVC Westerlo, der SK Lierse und des FC Brügge, was für einen Jugendspieler ziemlich viele Wechsel sind. War das immer einfach für Sie?
Nein, manchmal war es schon hart. Wobei, eher für meine Familie als für mich. Als ich nach Brügge ins Internat gewechselt bin, war ich 14. Meine Mutter war sehr traurig, als ich zu Hause ausgezogen bin. Das war ganz schrecklich für sie. Ich war damals vermutlich noch zu jung, um den Schritt richtig zu realisieren. Ich habe nur gedacht: „Oh yeah, ich spiele jetzt für einen richtig großen Verein.“ Härter war da schon der Wechsel mit 18 zum SC Telstar in die zweite Liga nach Holland. Aber auch das hat mich stärker gemacht. Ich konnte dort viel spielen und im Herrenfußball so richtig ankommen.
Wann haben Sie zum ersten Mal vom Verein Werder Bremen gehört?
Das war, als Jelle van Damme in Bremen gespielt hat (Lynens belgischer Landsmann war von 2005 bis 2006 für Werder aktiv, Anm. d. Red.). Und danach natürlich nochmal ganz intensiv während Kevin De Bruynes Zeit (2012 bis 2013, Anm. d. Red.) Da habe ich mir wirklich sehr viele Werder-Spiele angesehen. Für mich ist De Bruyne nicht nur der beste belgische Fußballer aller Zeiten, sondern nach der Messi- und Ronaldo-Ära aktuell auch der beste der Welt.
Der Schritt aus Belgiens erster Liga in die deutsche Bundesliga ist ein ziemlich großer. Von wem haben Sie sich vor dem Wechsel zu Werder Rat geholt?
Ich habe natürlich mit meiner Frau sehr viel darüber gesprochen, was der Wechsel für uns als Familie bedeutet. Das war es aber eigentlich auch schon. Dass es ein großer Schritt für mich werden würde, konnte ich selbst ganz gut einschätzen. Ach so, und mit Dennis Eckert Ayensa (Lynens Ex-Mitspieler bei Union Saint Gilloise, der aus Deutschland stammt und dort zuletzt für Ingolstadt aktiv war, Anm. d. Red.) habe ich mich generell über die Art des Fußballs in Deutschland unterhalten.
Was sind Sie für ein Typ in der Kabine: Eher Wortführer oder eher Zuhörer?
Also besonders laut bin ich nicht, ganz still aber auch nicht. Irgendetwas dazwischen, ganz normal eigentlich. Ja, genau: Ich bin ein ganz normaler Typ (lacht).
Was kommt Ihnen als Erstes in den Sinn, wenn Sie an den 8. September 2022 denken?
Oh, ich glaube, da brauche ich jetzt etwas Hilfe.
Stichwort: Union Berlin. . .
Ah, klar! Das allererste Europapokalspiel von Saint Gilloise. Das war wirklich verrückt. Im Vorfeld hatte unser Staff den Gegner analysiert, und danach hieß es gegenüber der Mannschaft: „Jungs, so etwas haben wir noch nie gesehen. Da kommt richtig was auf uns zu.“ Die Analysten waren fast etwas erschrocken (lacht).
Dann haben Sie das Spiel 1:0 gewonnen, und das Tor des Tages an der Alten Försterei haben Sie erzielt.
Ja, das steht jetzt in den Geschichtsbüchern von Saint Gilloise, also wirklich! Nach der Saison hat der Verein ein besonderes Buch anfertigen lassen, in dem das Spiel und natürlich auch mein Tor ausführlich erwähnt werden. Als ich gegen Union getroffen habe, wusste ich sofort: Dieser Moment wird bleiben.
Saint Gilloise war in der Vorsaison das große Überraschungsteam in Belgien und ist am Ende Zweiter geworden. Kann Werder in der Bundesliga eines Tages auch mal wieder so eine Rolle spielen?
Warum nicht? Was wir mit Saint Gilloise erreicht haben, war ein Märchen. Das kann man sich eigentlich gar nicht ausdenken. Die Saison hat mir nochmal gezeigt, dass man niemals aufhören sollte, an Großes zu glauben.
Nun waren die vergangenen Wochen für Werder aber nicht gerade erfolgreich. Drei Niederlagen nach drei Pflichtspielen stehen zu Buche, was bei vielen Menschen im Umfeld für Enttäuschung sorgt. Erwarten die Fans angesichts von starken Gegnern wie Bayern und zuletzt Freiburg zu viel von der Mannschaft?
Nein. Natürlich waren das starke Gegner, aber es ist doch ganz normal, dass man als Fan immer die eigene Mannschaft siegen sehen möchte. Das Ausscheiden in der ersten Pokalrunde (Werder unterlag dem Drittligisten Viktoria Köln mit 2:3, Anm. d. Red.) war sehr enttäuschend und unnötig. Den Frust der Fans nach dem Spiel konnte ich total verstehen. Uns ging es ja genauso. Gegen Bayern war die Leistung danach trotz des deutlichen 0:4 am Ende in Ordnung, und in Freiburg verlieren wir nach gutem Auftritt noch in der Nachspielzeit. Daraus müssen wir einfach lernen.
In allen drei Spielen gab es Gegentore in der Nachspielzeit. Wie ist das zu erklären?
Das ist schwer zu sagen. So ist es manchmal einfach im Fußball. Im Verlauf der Saison treffen wir bestimmt auch mal in der 96. Minute – hoffe ich zumindest. Ich kann nur versichern, dass jeder Spieler bei uns immer alles gibt, und zwar bis zum Schluss.
Herr Lynen, wenn Sie sich entscheiden müssten: Lieber die spektakuläre Grätsche, die Ihre Mannschaft rettet, oder lieber das Traumtor auf der anderen Seite?
Das Traumtor natürlich! Überhaupt keine Frage!
Na ja, es soll schon Spieler, gerade Sechser, gegeben haben, die mehr Befriedigung aus einer Grätsche ziehen, nach der das Stadion laut wird.
Aber das wird es nach einem Traumtor doch auch, sogar noch mehr! Ich bleibe also bei meiner Wahl (lacht).