Immerhin macht er es nicht so dramatisch wie Cristiano Ronaldo. Wenn der Superstar zu einem Freistoß anläuft, ist die Zeremonie vorher oft spektakulärer als der Schuss selbst. Breitbeinig wie ein Cowboy, die Sporthose weit hochgezogen, damit man die XXL-Muskeln der Oberschenkel gut sehen kann. Dann ein Anlauf wie ein stolzierender Storch. Und schon fliegt der Ball los, in den allermeisten Fällen aber nicht ins Tor.
Zum Ende seiner großen Zeit bei Real Madrid zählten Statistiker nach: Bei 419 Versuchen landete der Ball nach einem direkten Ronaldo-Freistoß nur 30 Mal im Tor, was im Umkehrschluss 389 Fehlversuche bedeutet. Gemessen daran ist die Vorfreude der Fans erstaunlich: Wenn sich Ronaldo den Ball zurechtlegt, bebt es auf den Tribünen immer in freudiger Erwartung.

Grün auf Weiß ist die Werder-Kolumne des WESER-KURIER, in der Chefreporter Jean-Julien Beer einen Blick hinter die Kulissen des Bundesligisten wirft, Zusammenhänge erklärt und die Entwicklungen im Verein einordnet.
Das zumindest kennt man auch im Weserstadion. Wenn Marvin Ducksch sich den Ball für einen Freistoß zurechtlegt, stehen die Zuschauer auf und feuern ihn an. Kurze Zeit später sitzen sie aber schon wieder, weil kein Tor gefallen ist. Um es deutlich zu sagen: Ducksch hat ein tolles Gefühl im Fuß, er kann den Ball anschneiden und mit Kraft durch die Gegend schießen; und es ehrt ihn, dass er aus seinen Freistößen nicht so ein Theater macht wie Ronaldo, sondern eher nüchtern konzentriert wirkt. Aber warum schießt immer nur er, wenn es für Werder einen Freistoß gibt?
An seiner Ausbeute liegt es nicht, das ist klar: Seit 2017 verwandelte Ducksch im Profifußball fünf Freistöße direkt zu seinem Tor, also rechnerisch in fast jeder Saison maximal einen. In der aktuellen noch keinen. Je zweimal traf er für Holstein Kiel und Hannover 96, einmal für Werder. Aber das war nicht dieses spektakuläre Tor, das vielen Werder-Fans sofort in Erinnerung kommt, wenn sie an Ducksch und Freistöße denken: Im Zweitliga-Nordderby gegen den Hamburger SV zirkelte er den Ball perfekt in den Winkel, das Weserstadion explodierte bei diesem Treffer zum 1:1-Ausgleich. Jedoch: Dieses schöne Tor im September 2021 zählte nicht, weil sich Mitchell Weiser beim Schuss in der Freistoßmauer aufhielt. Das ist verboten, was Weiser nicht wusste und auch viele Zuschauer noch nie gehört hatten.
Wer sich erinnern kann, welches Freistoßtor Ducksch stattdessen für Bremen geschossen hat, ist entweder mit einem herausragenden Gedächtnis gesegnet, oder hat beruflich damit zu tun. So wie Ole Werner. „In Heidenheim“, sagt Werders Cheftrainer wie aus der Pistole geschossen auf die Frage, ob Ducksch schon mal einen Freistoß für Werder ins Tor geschossen hat. Und das stimmt: Der Freistoßtreffer in dem kleinen Stadion, in dem Werder zwei Jahre zuvor den Klassenerhalt feierte, war sogar noch schöner als der gegen den HSV. Es passierte im März 2022, zwei Monate vor dem Aufstieg, und Werner erinnert sich auch deshalb so genau daran, weil es seine erste Niederlage als Trainer des SV Werder war. Heidenheim führte schon 2:0, als Ducksch den Bremer Ehrentreffer erzielte: Aus 22 Metern zentral vor dem Tor schlenzte er den Ball in den Winkel, oben rechts schlug die Kugel ein. So ein schönes Freistoßtor erlebte Werder seither nie wieder.
Ole Werner kennt die Fragen, warum Ducksch immer die Freistöße schießt. Viele Fans fragen sich das weiterhin, während sich die Medien an das Kuriosum gewöhnt haben. Die Antwort auf die Frage ist eine zweigeteilte, je nachdem, welche Freistöße man meint. Ducksch schießt ja auch die Freistöße und Ecken von der Seite, was für einen Mittelstürmer ungewöhnlich ist. Den würde man eher im Strafraum vermuten, so gierig auf eine Torchance lauernd wie Niclas Füllkrug. Aber: Ducksch würde dort nicht weiterhelfen. Er hat kein besonders gutes Kopfballspiel, um sich gegen Abwehrspieler im Zentrum behaupten zu können. Was er aber hat, und das zeichnet ihn bei seinen sonstigen Toren aus: ein feines Gefühl im Fuß. Instinkt und Frechheit vermischen sich bei seinen Schüssen manchmal zu einer unhaltbaren Kombination.
Warum er auch die direkten Freistöße schießt? Die Antwort ist für Werder ernüchternd, für Ducksch selbst aber ermutigend: Es gibt keinen im Kader, der es besser könnte. Zwar würde man es einem Leo Bittencourt, Romano Schmid oder Niklas Schmidt zutrauen – nachgewiesen haben sie das aber noch nicht. Immerhin: Bald ist wieder ein Jahr vorbei, rein statistisch müsste Ducksch also demnächst wieder per Freistoß treffen. Und so viele Fehlversuche wie Ronaldo hat er noch lange nicht.