Wie tief der Stachel der Enttäuschung beim SV Werder Bremen nach der 2:3-Heimpleite gegen Holstein Kiel sitzt, verdeutlichte eine ungewöhnliche Aktion der Medienabteilung. Via Twitter rief der Club seine Fans am Samstag dazu auf, ihren Frust und Ärger in einer sogenannten „Abf*ckliste“ loszuwerden und stellte damit ungewollt seine eigene Mannschaft öffentlich an den Pranger.
Der „virtuelle Kummerkasten“, wie ein Clubsprecher die Aktion verteidigte, war jedenfalls randvoll, was nach dem Schock im Aufstiegsrennen wenig überraschte. Auch Clemens Fritz als Werders Leiter Profi-Fußball gestand im Gespräch mit unserer Deichstube am Tag nach dem herben Rückschlag: „Keiner hatte eine ruhige Nacht. Wir haben alle darüber nachgedacht, wie das passieren konnte.“
Werder war nach dem 4:1-Knaller auf Schalke als Spitzenreiter in die Partie gegangen. Und weil der Favorit schon nach 23 Minuten durch die Treffer von Niclas Füllkrug und Marvin Ducksch (Handelfmeter) in Führung lag, schien alles in bester Ordnung. War es aber nicht.
Auf der rechten Abwehrseite wurde weiter schlecht verteidigt, auch in der Mitte fehlte der nötige Zugriff. Kiel wurde noch vor der Pause zum Toreschießen eingeladen. Dass Fülkrug den Ball dabei Sekunden vor dem Halbzeitpfiff unglücklich ins eigene Tor beförderte, passte da ins Bild. Nach dem Wechsel gab es zwar gute Chancen, den alten Abstand wiederherzustellen, doch die Tore fielen auf der anderen Seite. Anthony Jung sorgte mit dem zweiten Bremer Eigentor für den Ausgleich (71.) und Julian Korb (85.) für den Siegtreffer.
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Grün-Weiß war im mit 42.100 Zuschauern ausverkauften Wohninvest Weserstadion geschockt. Nach dem Abpfiff hatten die Fragezeichen Hochkonjunktur. Warum hat Werder sich diese sichere Führung und diese Riesenchance auf drei wichtige Punkte im Aufstiegsrennen nur nehmen lassen? „Für mich gibt es da nur eine Antwort: Wir waren insbesondere nach der 2:0-Führung zu sorglos!“, urteilte Fritz. „Wir haben aber insgesamt kein gutes Spiel gemacht. Und wenn du dann noch ein, zwei Prozent nachlässt, weil du nach dem 2:0 denkst, es läuft von allein, dann kann so etwas passieren. Aber du musst deine Leistung permanent auf den Platz bringen und dazu gehören auch Aggressivität und Intensität.“
Fritz war mit seiner Kritik aber längst noch nicht fertig: „Mir hat auch dieses Miteinander gefehlt, das uns gerade auf Schalke so stark gemacht hat. Wir sind zu oft aus der taktischen Ordnung ausgebrochen. Dieser Auftritt muss uns alle ärgern, das darf uns nicht passieren! Wir haben uns für die nächsten Spiele unnötig viel Druck aufgebaut, weil wir Punkte verschenkt haben.“
Die Schalker, die in letzter Sekunde in Sandhausen gewannen, zogen in der Tabelle wieder an den Bremern vorbei. Darmstadt 98 hat am späten Samstagabend mit einem Sieg gegen Aue die Chance, sich ebenfalls vorbeizumogeln. Was vor den beiden letzten Spieltagen bedeuten würde: Aus eigener Kraft kann Werder nicht direkt aufsteigen. Und Vorsicht! Der Hamburger SV hat sich herangepirscht, liegt wie der schwächelnde FC St. Pauli nur noch drei Zähler hinter Werder.
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Kein Wunder, dass an der Weser die Angst umgeht, dass aus dem Traum von der direkten Rückkehr in die 1. Liga ein Albtraum wird. Denn nach den so erfolgreichen Wochen unter Coach Ole Werner täte ein Scheitern im Schlussspurt richtig weh. Die Niederlage gegen Kiel ist auch an den Werder-Profis nicht spurlos vorbeigegangen. „Die Spieler haben sich ihre Gedanken gemacht“, berichtete Fritz von der Zusammenkunft der Mannschaft mit dem Trainerteam am Samstagmorgen: „Ole hat die Fehler in der Analyse deutlich angesprochen. Das werden wir jetzt sacken lassen, und ab Dienstag liegt der Fokus dann auf Aue.“
Beim Tabellenvorletzten will Werder am Sonntag, 8. Mai, auf der Achterbahnfahrt durch die Saison wieder nach oben fahren. „Dafür brauchen wir eine intensive Trainingswoche, wir müssen die Sinne schärfen. Ich bin überzeugt, dass die Mannschaft das kann, wir werden in Aue voll da sein!“, versprach Fritz vorsorglich schon mal. Der Ex-Profi gibt gerne den Mutmacher, das gehört schließlich auch zu seinem Jobprofil. Zwei Spieltage vor Ende der Saison darf der Frust eben nicht die Zuversicht besiegen. Dabei sollte auch die „Abf*ckliste“ helfen, in der sich jede Menge Werder-Fans eintrugen – und sich dabei für Twitter-Verhältnisse überraschend gesittet verhielten.