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Essay über Löhne in der Krise Können wir uns mehr leisten?

Der Ruf nach mehr Geld gehört zum Arbeitnehmerleben dazu. Aber ist es angebracht, in Krisenzeiten die Forderung nach höheren Löhnen zu erheben?
12.02.2023, 07:25 Uhr
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Können wir uns mehr leisten?
Von André Fesser

Wenn Umweltschützer auf den Straßen kleben und den Berufsverkehr blockieren, dann ist die Aufregung groß. Doch auch andere Menschen sind mal im Weg. Zumeist kleben sie nicht, aber sie stehen – auf Straßen oder Plätzen, mal laut, mal leise, aber immer mit einer Botschaft, die der Musiker Gunter Gabriel schon in den 1970er-Jahren in einfache Worte gekleidet hat: Hey, Boss, ich brauch mehr Geld!

Mal sind es Lokführer, die da demonstrieren, mal Metallarbeiter, Erzieherinnen oder Post-Bedienstete. Auch sie stehen nicht zum Spaß auf der Straße. Sie fordern bessere Arbeitsbedingungen oder Zukunftsperspektiven, die diese Bezeichnung auch verdienen. In aller Regel aber – Gunter Gabriel hat's besungen – geht es ums Einkommen. Gerade jetzt, wo die Zeiten hart und die Preise hoch sind, wäre ein ordentlicher Schluck aus der Pulle nach Ansicht vieler Arbeiter und Angestellter mal wieder dran. Nachvollziehbar ist das allemal – aber kann sich das Land Lohnsteigerungen in einer Zeit leisten, in der es Energiekrise, Flüchtlingszuzug und Klimawandel gleichzeitig zu bewältigen gilt? In der Unternehmen heute nicht wissen, was morgen wird?

Verhandlungen für Millionen

Es geht um viel, und zwar für viele. In diesem Jahr laufen für deutlich mehr als zehn Millionen Beschäftigte die Tarifverträge aus. Und das ist durchaus schon zu spüren. Gerade erst haben die Bediensteten der Post ihre Muskeln spielen lassen, auch der öffentliche Dienst im Bund und den Kommunen ist wieder dran. In Rathäusern, kommunalen Kindergärten oder auf den Bauhöfen arbeiten rund 2,8 Millionen Beschäftigte, die sich mehr Geld wünschen. Später im Jahr werden auch die Tarife für den öffentlichen Dienst der Länder verhandelt werden müssen. Und Ende Februar läuft der Tarifvertrag für rund 119.000 Beschäftige der Deutschen Bahn aus. Wer mit dem Gedanken spielt, in den Ferien mit dem Zug zu verreisen, sollte das mit einplanen: Streikgefahr!

Denn die Auseinandersetzungen könnten hart verlaufen, was auch daran liegt, dass der Schluck dieses Mal üppiger ausfallen soll, als man es gewohnt ist. Die Gewerkschaften erwarten, dass die Arbeitgeber den vor allem energiepreisgetriebenen Anstieg der Lebenshaltungskosten ausgleichen. Außerdem gebe es, wie der Verdi-Vorsitzende Frank Werneke im Deutschlandfunk unter Bezugnahme auf gestiegene Steuereinnahmen betonte, "was zu verteilen". 

Tatsächlich haben Arbeitnehmerinnen und -nehmer zuletzt eher draufgezahlt: So stiegen die Löhne im Jahr 2022 gegenüber dem Vorjahr laut Statistischem Bundesamt auf dem Papier zwar um durchschnittlich 3,4 Prozent. Der parallel verlaufende Anstieg der Verbraucherpreise um 7,9 Prozent habe aber dazu geführt, dass sich die Reallöhne um 4,1 Prozent reduziert hätten. Ein in der Bundesrepublik historisch hoher Wert.

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Diese Einkommenslücke gilt es zu schließen, finden Gewerkschafter und kommen mit Forderungen daher, die man so auch noch nicht oft gesehen hat. Im öffentlichen Dienst rufen sie 10,5 Prozent auf, die Beschäftigten der Post wollen sogar 15 Prozent mehr Lohn. Und wer findet, dass das überzogen ist, muss sich nur mal die Lufthansa ansehen. Die Fluggesellschaft und die Flugbegleitergewerkschaft Ufo haben sich schon Ende vergangenen Jahres auf einen neuen Tarifvertrag für rund 19.000 Beschäftigte geeinigt. Der Großteil erhält knapp neun Prozent mehr Geld, für Berufseinsteiger steigen die Gehälter sogar um mehr als 17 Prozent.  

Wie in den Siebzigern

Wirtschaftswissenschaftler fühlen sich längst an die 1970er-Jahre erinnert, als es eine ähnliche Kombination aus hoher Inflation und üppigen Tarifabschlüssen gab. Und sie warnen davor, dass nun abermals eine Lohn-Preis-Spirale in Gang gesetzt wird. Darunter verstehen Ökonomen das Wechselspiel aus steigenden Löhnen und infolgedessen immer weiter steigenden Preisen. Diese Preiserhöhungen kommen zustande, weil die Arbeitgeber die höheren Personalkosten wieder reinholen müssen – am Ende zahlt der Kunde. Wenn die Preise aber steigen und vom Volk bezahlt werden müssen, ist der Ruf nach weiteren Lohnerhöhungen nicht weit. Diese Spirale dreht sich ohne Unterlass, wenn Staat, Zentralbanken und Tarifparteien nicht gegensteuern. 

Der Wirtschaftswissenschaftler Bernd Kempa hält Forderungen, wie sie jetzt im öffentlichen Dienst gestellt werden, daher auch für "überzogen". Zwar würden hohe Tarifabschlüsse im öffentlichen Dienst nicht in höhere Preise münden. Wenn sich aber der Bund, Länder oder Gemeinden verschulden müssen, um ihre Personalausgaben zu finanzieren, schlage sich dies auf lange Sicht in höheren Steuern nieder. Und auch das, so der Münsteraner Ökonom gegenüber "Capital", träfe dann alle. 

So müssen sich Gewerkschaften die Frage gefallen lassen, ob es denn nicht auch ein bisschen weniger sein darf. Bernd Kempa spricht sich für moderate Lohnerhöhungen aus. Es bedürfe "der Besonnenheit der Tarifvertragsparteien und insbesondere des öffentlichen Diensts, sich nicht auf zehn Prozent zu versteifen". Fünf bis sechs Prozent seien gerechtfertigt. Aber wer rechnen kann, wird erkennen, dass dies nicht dazu taugt, die in den vergangenen Jahren entstandene Kaufkraftlücke zu schließen. Man müsse also, so Kempa, "einen leichten Rückgang des Einkommens hinnehmen". 

Aufgabe für alle

So wird die Bewältigung der Krise zur Volksaufgabe, bei der jeder und jede einen Beitrag leisten muss. Potenziale sind ja da: Zwar gibt es Menschen, die sich nicht mehr trauen, die Heizung aufzudrehen, und auch nicht wissen, ob sie am Ende des Monats noch was Essbares im Kühlschrank haben. Wer hingegen das große Auto fährt oder sich neben der jährlichen Mallorca-Sause auch noch den Skiurlaub zur Regel gemacht hat, hat natürlich einiges an Verfügungsmasse, um dem Einkommensausfall in der Krise zu bewältigen. Einen Teil davon hat auch der Staat schon übernommen. Die Entlastungspakete, die der Bund geschnürt hat, um den Menschen durch die schwierige Zeit zu helfen, werden auf dem Schlachtfeld der Politik und der Tarifkonflikte aber gern vergessen. 

Derartige Verweise helfen Menschen in unteren Einkommensklassen allerdings wenig. Gerade erst ist der Mindestlohn auf zwölf Euro gestiegen. Der an der Universität in Frankfurt am Main tätige Wirtschaftswissenschaftler Volker Wieland weist beim Hessischen Rundfunk darauf hin, dass sich vor allem jene Gruppen, die nun nur noch knapp über diesem Mindestlohn liegen, bemerkbar machen werden, um den alten Abstand wieder herzustellen.

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Allerdings tragen Tariferhöhungen nach Expertenmeinung auch dazu bei, die Kaufkraft zu erhalten, was die Wirtschaft davor bewahren könnte, in eine Rezession zu rutschen. Und noch einen Grund gibt es für Arbeitgeber, Tariferhöhungen bei allem Spardruck als lohnenswerte Ausgabe zu betrachten: In Zeiten des Fachkräftemangels gilt es für Unternehmen, aber auch für den arbeitgebenden Staat, sich im Werben um Arbeiter und Angestellte attraktiv zu machen. Krankenhäuser und der Pflegesektor haben auf lange Sicht zu wenige Leute, um die Aufgaben zu bewältigen. Bundesweit fehlen Lehrerinnen und Erzieher. Und wer mit der eigenen Stelle gerade unzufrieden ist, hat gute Aussichten, anderswo unterzukommen. Mitunter muss man nicht einmal eine Bewerbung schreiben, um ein Einstellungsgespräch anzubahnen.

Auch mal in den Urlaub

Die Einkommensfrage ist dabei eine wichtige Stellschraube. Denn auch wenn Fitnessraum, Jobticket, Homeoffice oder flexible Arbeitszeiten einen Arbeitsplatz attraktiv machen können, geht es für viele Beschäftigte immer noch darum, was am Ende des Monats auf ihrem Konto landet. Gerade bei Menschen mit kleinen und mittleren Einkommen.

Gunter Gabriel hat es so beschrieben: Ich will ja keine Schlösser bauen, nur eben, dass es reicht / Denn gerade so ein Mann wie ich, der hat's nicht immer leicht / Der will auch mal in Urlaub fahren, mit Kindern, Frau und Hund / Denn viel zu lange leben wir schon von der Hand in Mund.

Das Lied ist fast fünfzig Jahre alt. Manch einem, der in den kommenden Wochen auf der Straße steht, wird es vorkommen, als wäre es erst gestern geschrieben worden. 

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