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Sozialwissenschaftlerin im Interview "Älter werden heißt neu werden"

Die Wissenschaftlerin Annelie Keil spricht darüber, was wir im Alter brauchen, wie wir uns in dieser Zeit verändern und wie wir uns darauf vorbereiten sollten.
15.04.2018, 22:58 Uhr
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Von Edith Labuhn

Frau Keil, gibt es einen konkreten Anlass für Ihren Vortrag „Angehörige und Professionelle zwischen Hingabe und Pflichtgefühl – oder ist es mehr ein grundsätzliches Anliegen?

Annelie Keil: Es ist eine Art Tradition, die sich aus meiner Biografie erklärt. Es gibt bestimmte Gruppen, da bin ich teilweise schon seit 40 Jahren unterwegs. Die Landfrauen zum Beispiel haben mich im Rahmen meiner Arbeit schon immer interessiert. Da bildet sich gesellschaftlich so vieles ab, auch in Gesundheitsfragen. Unternehmerfrauen im Handwerk sind eine andere Gruppe. Und der Bremer Heimstiftung bin ich einfach sehr verbunden, auch durch das, was ich im Palliativ- und im Pflegebereich mache, neben der wissenschaftlichen Arbeit.

Weshalb gerade die Bremer Heimstiftung?

Die kann als vorbildlich angesehen werden. Hier wurden früh Modellprojekte entwickelt, etwa Alten- und Pflegeheime mit Kindergärten und Schulen zu verbinden. Hier ist man sehr früh gegen die Kommerzialisierung angegangen, hat gesehen, dass für besondere Gruppen besondere Angebote gemacht werden sollten, Projekte wie das Haus im Viertel. Auch aus dieser Verbundenheit heraus biete ich regelmäßig Vorträge in den Residenzen an. Und (lacht): Ich gehöre ja auch bald dazu, ich bin ja auch schon fast in meinen 80ern.

Heißt das, Sie gehen das Thema Alter eher persönlich an?

Es liegt schon quer zu dem, was ich sonst wissenschaftlich mache. Ich kann ja nicht nur in Gremien klug reden, ich muss auch vor Ort sein, nah an den Menschen, die das erleben, worüber ich forsche.

Und was erleben die?

Sozialarbeiter, Pflegekräfte, Ehrenamtliche, die sich um die Schwachen der Gesellschaft kümmern, sehen, dass am Ende die alten Menschen oft alleine bleiben. Ja, es kommt vielleicht der Pflegedienst, es gibt Essen auf Rädern – aber sie haben oft die ganze Woche über keinen lebenden Menschen, mit dem sie ein paar Worte sprechen können. Da bleibt die seelische Gesundheit auf der Strecke. Die Kinder wohnen vielleicht weit weg. Oder man hat sich schon lange nichts mehr zu sagen. Oder die Tochter kommt eigentlich ganz gerne, aber die Mutter ist inzwischen zum Griesgram geworden, empfängt sie mit den Worten „Dass Du auch noch mal kommst“, statt Freude zu zeigen. Es sind viele Alte sehr verbittert.

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Was könnte ein Grund dafür sein?

Wir sind die erste Generation – vielleicht überhaupt in der Weltgeschichte – die nach der Erwerbsarbeit noch fast 20 Jahre zu leben hat. Keine Generation hat so viel Zeit bekommen, noch mal nachzudenken was war und wie es war. Oder auch was Neues anzufangen. Oder sich einfach zu freuen über die geschenkte Zeit. Wohlgemerkt: Ich bin kein Fan des Credos „Gesund und fit bis 100“. Ich hab' da keinen Bock drauf, mit dem Rollator ins Grab zu rennen. Ich möchte von vier Männern auf Händen dahin getragen werden (lacht).

Statt zu klagen sollte die ältere Generation sich also lieber der Privilegien des Ruhestands bewusst werden?

Ruhestand ist ja gar nicht der passende Begriff: Die Verantwortung fürs eigene Leben wird eher komplizierter. Einkaufen mit Rollator oder mit Stock, weniger Geld – da muss vieles anders organisiert werden. Bei Älteren, da reden wir über die Menschen 60 plus, aber eben auch über 90-Jährige oder drüber. Vor allem die Familie wird da von der Politik in der Verantwortung gesehen. Was dabei nicht berücksichtigt wird: Das Familienleben ist zuvor oft schon schwierig. Nicht selten haben Eltern Zwietracht unter den Kindern gesät, da hat einer das alte Haus geerbt, kümmert sich aber nicht um die Eltern. Oder auf dem Land, da kriegt der Älteste den Hof, auf dem die Eltern alt werden wollen, und dann geht der pleite. Und die, die ausgezahlt wurden, sehen sich nicht in der Pflicht, sich um die Eltern zu kümmern. Oder man kann die Schwiegertochter nicht leiden, macht sich aber keine Gedanken, was wird, wenn eben dieser aus Tradition oder mangels Alternative die Aufgabe der Pflege zufällt.

Wie sollte man sich aufs Alter vorbereiten?

Ich sage immer: Räumt in Euren Beziehungen vorher auf. Überlegt Euch, wer eine gute Hilfe sein könnte. Statt immer nur auf die Zweierbeziehung zu sehen, was für Eheleute oft wie selbstverständlich ist, sollte man auch mal an Freunde und Nachbarn denken.

Sollten sich Paare nicht aufeinander verlassen?

Für ein Paar läuft das nunmal oft nach bekanntem Muster ab. Da pocht dann der Mann – mitunter unbewusst – darauf, wenn er nicht mehr kann, dass eben die Frau alles macht, was ansteht. Essen auf Rädern? „Kommt gar nicht in Frage, solange die Alte noch kochen kann“, um es mal salopp zu formulieren. Kurzzeitpflege, nur damit die Frau sich mal mit ihren Freundinnen erholen kann? Nix da. Wohin das führen kann, dazu gibt es eine Karikatur, die mir sehr in Erinnerung geblieben ist: Da sitzt eine alte Frau neben ihrem mürrisch blickenden Ehemann und sagt: „Wenn Du jetzt nicht bald stirbst, dann lasse ich mich scheiden.“

Das passiert ja tatsächlich gar nicht selten.

Vielleicht, weil manche Frage zu lange vermieden wird. Etwa: Darf ich mich scheiden lassen, wenn bei meinem Partner Alzheimer diagnostiziert wurde oder er nach dem Schlaganfall nicht wieder auf die Beine kommt? Verständlich ist der Gedanke. Die Aggression nimmt oft zu, und etliche kommandieren selbstverständlich vom Rollstuhl aus, dass das Essen gefälligst um 12 Uhr auf dem Tisch zu stehen hat. Wir müssen uns rechtzeitig fragen, was unser Beitrag sein könnte, dass es nicht im Bösen endet.

Wie könnte es im Guten enden?

Freiwillig schon mal mit den Kindern reden, was ich mir so vorstelle für mein Alter. Überlegen, was ist finanziell möglich, wer hat im Zweifelsfall das Sagen. Sich auch schon mal gemeinsam ein Heim angucken. Und sich den einen Satz verbieten: „Ich will ja niemandem zur Last fallen.“ Wenn ich das höre, sage ich: Leute, Ihr seid lästig. Schon mit Eurer Geburt seid Ihr Eurer Mutter zur Last gefallen, auch wenn sie sich noch so sehr gefreut haben mag. Es heißt doch ganz richtig „Einer trage des anderen Last“, nicht nur als Bibelwort, sondern auch philosophisch. Wenn wir das nicht tun würden, kämen wir ja nie irgendwo an.

Ist der Umgang mit Hilfe so schwierig?

Das kann so sein. Viele Alte sagen auch nicht mehr „Danke“. Sie sagen: „Das habe ich ja wohl bezahlt.“ Aus dieser Mentalität heraus weigern sich manche sogar, im Heim neben einem Dementen zu sitzen. Es geht aber darum, das Älterwerden und das Altsein mit dem eigenen Leben in Verbindung zu bringen. Der Körper braucht irgendwann Hilfe. Und dafür muss ich sorgen.

Und wie gehe ich mit meinem Leben am Ende am besten um?

Ich stelle alle Tipps in einen biografischen Zusammenhang. Anhand der Beispiele wird etlichen klar, manchmal unterbewusst, wo ein Zusammenhang mit ihrer eigenen Lebenssituation sein könnte. Eine Art Selbstberatung. Dass im Alter das Leben eben nicht einfach so weiter geht. Älter werden heißt aus meiner Sicht neu werden. Das muss nicht immer positiv sein. Neu wird vielleicht auch die Frage: Warum darf ich keinen Schlüssel mehr haben? Warum muss ich ein Armband tragen? Ja, damit Sie heil wieder zurückkommen. Es ist gut, diese Möglichkeit vorher schon einmal gedacht und mit Angehörigen darüber gesprochen zu haben.

Womit wir wieder bei der Familie sind.

Ja, und da geht es auch um Würde. Je älter Menschen werden, desto dickköpfiger werden sie. Das war immer so, das bleibt auch so. Wenn sich Angehörige ganz darauf einlassen, gerät womöglich die eigene Familienstruktur ins Wanken. Das andere Extrem wäre es, wenn etwa die Wohnung der Eltern schon gekündigt und leergeräumt wird, noch ehe sie sich überhaupt in einer Pflegeeinrichtung eingerichtet haben. Oder wenn über den Kopf eines Dementen hinweg die Zeitung abbestellt wird, und damit sein tägliches Ritual. Es hat doch niemand das Recht zu sagen, dass die Zeitung nicht auch über Kopf gelesen werden kann. Niemand hat zu bewerten, ob er den Inhalt auch verstanden hat. Das ist eine wichtige Frage: Wie würdige ich Menschen?

Auch in den Heimen.

Auch in den Heimen. Da hat auch ein alter Mensch das Recht aufzuessen. Statt Mittags schon gleich alles nach vorgegebener Zeit abzuräumen, könnte man am Abend auch zwei Teller wegräumen. Zu solcher Art subtilem Widerstand rate ich auch Pflegekräften. Und kann ihnen versichern: Glaubt mir, bei dem Notstand – ihr werdet nicht entlassen. Den Spruch „Es kommt immer anders, als man denkt“ kennen ja alle. Es gibt aber eine schöne Abwandlung: „Es kommt immer anders, wenn man denkt.“ Das Gehirn vergisst vielleicht Namen, aber wir alle können noch umdenken.

Das Gespräch führte Edith Labuhn.

Zur Person

Zur Person

Annelie Keil war von 1971 bis 2004 Professorin für Sozial- und Gesundheitswissenschaften an der Universität ­Bremen. Ihre Schwerpunkte setzte sie unter anderem in der psychosomatische Krankenforschung, der Biografie- und Lebensweltforschung sowie in der Arbeit mit Menschen in Lebenskrisen, Schwerkranken und Sterbenden.

Vortrag in Ilsabeen

"Was brauchen wir im Alter? Angehörige und Professionelle zwischen Hingabe und Pflichtgefühl“ – dieser Vortrag findet am Dienstag, 17. April, in der Stiftungs­residenz St. Ilsabeen, Billungstraße ­31–33, statt. Beginn ist um 15 Uhr, der Eintritt ist frei. Dazu gibt es einen aktuellen Buchtipp: Annelie Keil. Wenn das Leben um Hilfe ruft – Angehörige zwischen Hingabe, Pflichtgefühl und Verzweiflung, 240 Seiten, Oktober 2017, € 16,99. ISBN 978-3-95803-128-9.

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