Herr Böhme, laut dem Armutsbericht aus dem Februar 2021 ist im Land Bremen jeder vierte Mensch von Armut betroffen. Das kleinste Bundesland ist weiterhin negativer Spitzenreiter. 42,2 Prozent der unter 18-Jährigen gelten als arm. Verschärft die Pandemie diese Entwicklung noch?
René Böhme: Es gibt aus einzelnen Statistiken Hinweise darauf, dass die Armutszahlen steigen werden. Die Pandemie hat deutlich das Potenzial, bestehende soziale Ungleichheiten zu verschärfen. Das belegen aktuelle Zahlen aus Hamburg, die wir in einer Studie ausgewertet haben. Bundesweite Armutszahlen werden im November erwartet.
Woran lässt sich das steigende Armutsrisiko durch die Pandemie konkret festmachen?
Zum Beispiel an der Lohnungleichheit: Für 2020 sieht man deutliche Rückgänge in den unteren Einkommensgruppen; in der Gruppe der Angelernten und Ungelernten gibt es teilweise zweistellige Rückgänge in den Bruttomonatslöhnen in 2020. Die Lohnschere ist bei den abhängig Beschäftigten weiter aufgegangen. In den oberen Gruppen, etwa der Führungskräfte, hat sich dagegen kaum etwas verändert. Da gibt es eher eine Stagnation. Das deutet darauf hin, dass die Lohnschere bei den abhängig Beschäftigten weiter auseinandergegangen ist.
Wer gilt als arm?
Als arm gilt, wer weniger als 60 Prozent des Durchschnittseinkommens im Mittel erreicht. Dazu zählen überwiegend Menschen, die von Arbeitslosengeld II leben oder auch ein geringes Einkommen haben. 2019 lag diese Schwelle für einen Ein-Personen-Haushalt bei 1074 Euro, bei einer Familie mit zwei Kindern unter 14 Jahren bei 2256 Euro.
Arm und Reich manifestiert sich in Bremen auch in einer räumlichen Aufteilung – wie zeigt sich die soziale Spaltung konkret?
Vor allem Städte mit einem großen Eigentümermarkt entwickeln eine große räumliche Ungleichheit – Bremen ist von den 15 bevölkerungsreichsten Städten in Deutschland die mit dem größten Eigentümersegment von etwa 40 Prozent. Das äußert sich so, dass es in Borgfeld eine Kinderarmutsquote von etwa 1,6 Prozent gibt, während sie in Gröpelingen bei 55 Prozent und mehr liegt. Oder: Es gibt Quartiere, in denen etwa zehn Prozent der Schülerinnen und Schüler eines Jahrgangs Abitur machen, in anderen Ortsteilen sind es 75 bis 90 Prozent. Bei der Lebenserwartung gibt es Unterschiede von im Schnitt sieben Jahren bei den Männern. Beim Sprachförderbedarf von Kindern liegt die Spanne zwischen etwa zehn und 50 bis 60 Prozent. Diese Aspekte zeigen soziale Ungleichheit auf. In den Jahren vor Corona ist diese Schere immer weiter aufgegangen, von einer Trendumkehr durch die Pandemie ist nicht auszugehen.
Bremen ist seit Jahren negativer Spitzenreiter bei der Armutsquote. Ist das damit schicksalhaft? Oder wurde von der Politik etwas versäumt?
Etwa ein Viertel der von Armut betroffenen Menschen in Bremen sind Erwerbstätige, ein weiteres Viertel Rentnerinnen und Rentner. Ein Fünftel sind Kinder. Das heißt: Die Mehrzahl zählt nicht zu den klassischen Gruppen, die das höchste Armutsrisiko haben – das sind mit etwa 60 Prozent Langzeitarbeitslose. An der Armut von Geringverdienern, von Rentnerinnen und Rentnern, auch an der Armut von Kindern kann ein Land Bremen relativ wenig tun. Dazu müsste man an die Themen Mindestlohn, Kindergrundsicherung, Mindestrente und Regelsätze ran. Ein Haken an vielen Positionspapieren ist, dass darin die Spielräume eines Landes oder einer Kommune überbetont werden – und Vorschläge, die die finanzielle Situation von armen Menschen durch Änderungen auf Bundesebene zu verbessern, abgeblockt werden. Wenn man ganz konkret und innerhalb von ein bis zwei Jahren die Armutsquoten verändern will, muss man genau an diese Themen ran.
Aber das Land Bremen hat doch sicher auch Spielräume. Welche müssen stärker zur Armutsbekämpfung genutzt werden?
Das sind die Prävention von Armut und die Bekämpfung der Armutsfolgen: Mit dem Ziel, dass sich die finanziellen Folgen von Armut nicht auf die Bildungschancen von Kindern, auf die gesundheitliche Entwicklung der Menschen, das Ausmaß von Teilhabe auswirken. Bremen hat einiges auf den Weg gebracht, etwa das Programm Wohnen in Nachbarschaften, das jetzt mit dem Programm Lebendige Quartiere ergänzt wurde. Allerdings: Viele Maßnahmen gegen Armut sind eher wenig zielorientiert.
Was ist Ihre konkrete Kritik?
Ein zentraler Aspekt, der noch stärker im Mittelpunkt stehen muss, ist die kindbezogene Armutsprävention: Wie verhindert wird, dass aus Kindern aus Armutshaushalten neue Armutshaushalte werden. Bremen hat bereits vergleichsweise gute aufsuchende Angebote im Bereich der Neugeborenen. Im Anschluss daran offenbaren sich jedoch große Lücken.
Welche Lücken sind das – und wo muss investiert werden?
Bei den Angeboten der frühkindlichen Bildung in den 1990er- und 2000er-Jahren wurde zu wenig getan. Andere Länder haben früher in den Krippenausbau investiert, als es noch keinen Rechtsanspruch für unter Dreijährige gab. Bremen hat auch erst viel später in längere Betreuungszeiten investiert, ist hier aber im Ländervergleich weiter Schlusslicht. Inzwischen sind zwar mehr Plätze geschaffen worden, aber in den benachteiligten Stadtteilen reicht das längst noch nicht aus. Die Kinderzahlen steigen hier stärker als die Platzzahlen – und das notwendige Personal steht nicht ausreichend zur Verfügung. Auch im Bereich des Ganztagsausbaus und der Schulentwicklung in benachteiligten Quartieren steht Bremen trotz einiger Leuchtturmprojekte noch vor immensen Herausforderungen. Gerade auch deshalb, weil die Konzentration von benachteiligten Schülerinnen und Schülern in bestimmten Schulen weiter zunimmt. Viele Schulen sind hier absolut am Limit.
Das Gespräch führte Sabine Doll.