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Fotostory Wünschewagen des ASB Bremen erfüllt Sterbendem einen "letzten Wunsch"

Sterbenden in der letzte Phase ihres Lebens eine Freude bereiten: Das hat sich der Wünschewagen des Arbeiter-Samariter-Bundes auf die Fahne geschrieben. Mit einem Mensch im Rollstuhl ging er auf eine Weltreise.
04.12.2023, 14:21 Uhr
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Wünschewagen des ASB Bremen erfüllt Sterbendem einen
Von Elias Fischer

Ömer ist 32 Jahre alt. Auf Bitten bleibt sein richtiger Name anonym. Vor zehn Jahren erhält er eine Diagnose, die seine Zukunft stark beeinflussen wird: Multiple Sklerose (MS), eine aggressive Form, wie sich im späteren Verlauf herausstellen sollte. Heute kann sich Ömer wegen der Autoimmunerkrankung nicht mehr ohne Hilfe fortbewegen, nicht sprechen. Seine Krankheit ist unheilbar, seine Behandlung palliativ. Ömer lebt daher in einer Pflegeeinrichtung für Schwerstkranke, der Via Vita in Bremen-Lesum. Angesichts der verringerten Lebenserwartung des 32-Jährigen stellt die Station Zwei, auf der sich sein Zimmer befindet, eine Wunschanfrage an den Wünschewagen des Arbeiter-Samariter-Bundes (ASB) Bremen. Die Projektleiterin Sarah Stahmann nimmt sie entgegen und an. In einem Vorgespräch mit Ömer und der Station Zwei steht das Ziel schnell fest. Ömer sei ein junger Mann, sagt Stahmann. Da wolle man noch was erleben, eine Weltreise machen. Also fahren die "Wunscherfüller" – so nennt die Projektleiterin ihre insgesamt 22 ehrenamtlichen Helfer und Helferinnen – mit Ömer in das Miniatur-Wunderland nach Hamburg, in die weite Welt auf zwei Etagen.

Der Wünschewagen ist ein spendenfinanziertes Projekt, das der ASB bundesweit umsetzt. 2019 schaffte auch der Landesverband Bremen ein entsprechendes Fahrzeug an. Der Bundesverband bezuschusste laut Stahmann den Ankauf damals mit 50.000 Euro. Die gelernte Industriekauffrau organisiert seit August 2021 hauptamtlich den Betrieb des Wünschewagens in Bremen und Bremerhaven. Als sie sich beworben habe, sei in der Stellenausschreibung die Rede von einer Projektleitung gewesen, sagt sie. Erst im Auswahlprozess sei klar geworden, dass es sich um den Wünschewagen handele. "Da habe ich erst einmal geschluckt und mich erstmals mit der Sterbebegleitung beschäftigt." Heute mache sie den Job gerne, sagt Stahmann. Und der besteht darin, sterbenskranken Menschen in der letzten Phase ihres Lebens noch einen Wunsch zu erfüllen.

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Das etwas andere Einsatzfahrzeug

Bevor das Wünschewagen-Team – an diesem kühlen Novembernachmittag bestehend aus Yannick Heins und Anna Höcker – aufbricht, bereitet es das Fahrzeug im Fuhrpark der ASB-Landesgeschäftsstelle in Walle vor. Dort sticht der Wünschewagen äußerlich hervor, weil er nicht das klassische gelb-rote Gewand der Krankenwagen des Bremer Landesverbands trägt, sondern ein blau-weiß-orangenes. Aber auch ein Blick in den Fahrgastraum offenbart Unterschiede. Darin stehen zwei schienengeführte Stühle und ein hydraulisch gefedertes Podest, auf dem sich eine spezielle Transportliege befindet. Über die erstreckt sich eine blaue Decke mit weißen Sternen. Medizinische Geräte fallen nicht ins Auge.

Die sterbenskranken Gäste sollen auf der Fahrt keine Angst haben, keinen Druck verspüren, erklären Ömers Wunscherfüller Heins und Höcker, während sie eine Checkliste durchgehen. Die dient dem gelernten Notfallsanitäter und der examinierten Altenpflegerin dazu, die Vollständigkeit der Ausrüstung zu überprüfen und die Aufmerksamkeit für den Fahrgast zu schärfen. "Auf der Liste stehen auch medizinische Besonderheiten", sagt Heins. Ömer etwa habe einen Luftröhrenschnitt, sodass regelmäßig Speichel abgesaugt werden müsse. Zum Abschluss des Checks zeigen die Wunscherfüller noch eine atmosphärische Besonderheit des Fahrzeugs. Als Höcker einen Schalter betätigt, leuchten an seiner weißen Decke blaue Sterne auf. Dazwischen funkeln vereinzelt weiße, sie bilden das Sternbild "Großer Wagen". In weniger als einer Stunde wird unter ihm Ömer liegen, gehüllt in die blaue Decke mit weißen Sternen.

Nachdem Höcker den Schalter erneut betätigt hat, schließen sie und Heins die Türen und setzen sich in die Fahrerkabine. Da sitzt bereits Annas Ehemann, Björn Höcker, am Steuer. Der Berufskraftfahrer gehört dem dreiköpfigen Freundeskreis des Wünschewagens an. Anders als die Wunscherfüller verfügen die Freunde nicht über eine medizinische oder pflegerische Ausbildung. Der Zirkel unterstützt das Team ehrenamtlich bei Transporten zum Hospiz und Wartungsarbeiten oder – wie an diesem Tag – bei längeren Wunschfahrten. Den Weg nach Hamburg zum Miniatur-Wunderland kennt er berufsbedingt gut, weshalb er den Hinweg übernimmt. In aller Ruhe dreht er den Schlüssel im Zündschloss. Nächster Stopp der Reise: Via Vita.

In der Pflegeeinrichtung angekommen, ziehen Heins und Höcker die Transportliege vom Podest und fahren in den ersten Stock. Dort wartet Ömer bereits mit seiner persönlichen Pflegerin Yvonne Ruske auf das Wünschewagen-Team. Auch Ruske fährt mit, auch sie macht das in ihrer Freizeit. Fotos und Wandtattoos erzählen von seinem Leben vor der Krankheit. Er spielte Fußball, führte eine Beziehung und absolvierte eine Ausbildung. Ein Bild vom jungen Ömer im Trikot hängt über dem Bett, auf der gegenüberliegenden Wand klebt das Emblem des türkischen Fußballvereins Galatasaray Istanbul.

Fußball oder Modellbau

Warum die Wunschfahrt dann nicht zum jüngsten Champions League-Match des Clubs gegen den FC Bayern in München gegangen sei? Leider habe das Spiel stattgefunden, bevor die Wunschanfrage kam, sagt Stahmann. In dem Vorgespräch sei auch über Fußballspiele und andere Wünsche nachgedacht worden. "Aber er wollte unbedingt ins Miniatur-Wunderland." Wie äußert überhaupt ein Mensch, der nicht sprechen kann, einen Wunsch? Er habe bei dem Vorschlag sehr stark reagiert, sagt Stahmann. Zudem blinzle er bei Zustimmung, bewege die Augen von links nach rechts bei Ablehnung. Nicht jeden Fahrgast lernt Stahmann vorher kennen. Bei uneindeutigen Krankheiten wie MS oder Hirnaneurysmen allerdings setze man sich in der Regel persönlich mit den Anfragenden auseinander, sagt sie. Wichtig sei neben dem Wunsch, dass die Fahrgäste transportfähig sein. Das müsse ärztlich bescheinigt werden.

Bei Ömer bestehen keine Bedenken. Heins und Anna Höcker stellen sich ihm in seinem Zimmer vor, erklären ihm in aller Ruhe, was als Nächstes passiert. Ob er sich auf die Ausfahrt freue?, fragen ihn Höcker und Heins. Er zwinkert und schmunzelt. Die 22 "Wunscherfüller" sind im Umgang mit Sterbenden geschult. Besonderes Augenmerk liegt laut Stahmann dabei auf dem persönlichen Austausch. Manchen falle es schwer, die richtigen Worte gegenüber Sterbenden und Angehörigen zu finden. Aber: "Es geht nicht, nicht zu kommunizieren", zitiert die Projektleiterin Paul Watzlawick. Wichtig sei, dass die Wunscherfüller empathisch seien und sich gegenüber den Schwerstkranken nicht verstellten.

Weitere Schulungsinhalte sind die Handhabung der Technik im Wünschewagen und der Transportliege. Mit wenigen Handgriffen haben Heins und Höcker Ömer auf eben jene umgelagert und schieben ihn zum Wünschewagen. Kurze Zeit später liegt der 32-Jährige im Fahrgastraum. Sein Rollstuhl hingegen macht die Ehrenamtlichen kurz stutzig. Er ist größer als gedacht. Beim ersten Versuch, ihn in den Fahrgastraum zu hieven, scheitern sie trotz Björn Höckers Mithilfe. Stress kommt bei den Begleitern der Wunschfahrt nicht auf. Zusammen mit Pflegerin Ruske beratschlagen sie kurz, nehmen eine Armlehne ab und schieben den Stuhl um 180 Grad gedreht hinein. Passt.

Nächster Stopp: Miniatur-Wunderland

Auf dem Weg nach Hamburg erzählt Stahmann, die nicht bei jeder Wunschreise dabei ist, dieser aber in einem Auto nachfährt, wie sich der Job in der Sterbebegleitung auf ihr Leben ausgewirkt hat. "So, wie ich die Menschen kennengelernt habe, wollen die eine gute letzte Zeit erleben oder wichtige Dinge erledigen, bevor sie sterben", sagt sie. Wann der Tod eintrete, wisse man nicht. Daher nehme sie sich heute bewusster Auszeiten, wenn sie sie brauche, rufe ihre Freundin an, wenn sie gerade Lust darauf habe. Stahmann stellt den Materialismus infrage. "Bleibt mir der Porsche in der Garage? Nein, es sind die Gefühle und Emotionen." Vor dem Job war das nicht so, bildet sie sich ein.

Vor einem Backsteingebäude in der Hamburger Speicherstadt kommt der Wünschewagen nach einer 90-minütigen Fahrt zum Stehen. So schnell wie Heins, Anna und Björn Höcker Ömer eingeladen haben, haben sie ihn auch wieder aus dem Wünschewagen geholt, in seinen Rollstuhl umgelagert und zum Eingang des Miniatur-Wunderlands geschoben. Alle vier bis acht Wochen öffnet die Location abends exklusiv für Menschen mit schwersten Behinderungen. Am Eingang wartet ein Angestellter. Er bedient an diesem Abend den Treppenaufzug für Rollstühle. Auch hier passt der sehr große Rollstuhl Ömers nicht auf Anhieb, auch hier bricht keiner in Aufregung aus, auch hier funktioniert es wenig später.

Ömers Weltreise beginnt bei einem Helene-Fischer-Konzert im Berliner Olympiastadion. Vorbei an dem Fürstentum Monaco ziehen Ruske und Ömer ins schweizerische Chur, passieren anschließend den Fjord di Furore an der italienischen Amalfi-Küste zu ihrer Rechten und den Engadin zu ihrer Linken. Die Pflegerin fragt den 32-Jährigen zwischendurch, ob ihm der Ausblick gefalle. Mal blinzelt er, mal schüttelt er die Augen. Wenig später in Italien sitzt Ömer am Fuße des Vesuvs, der gerade ausbricht. Er grinst. Der Vulkan und Ömer, sie wirken in diesem Moment wie Abbildungen voneinander. Der Unbewegliche, aus dem das Lebendige sprudelt.

Ömer lacht oft, genießt es sichtlich, wenn die Kamera auf ihn gerichtet ist. "Das ist das Schöne an diesen Reisen: Wenn die Gäste zufrieden sind", sagt Heins. Für ihn seien diese Fahrten ein Ausgleich zu seinem Broterwerb. "Beim Rettungsdienst muss es immer schnell gehen", sagt der Notfallsanitäter. Beim Wünschewagen könne er sich Zeit für die Gäste nehmen, um ihnen vor dem Tod noch einen Wunsch zu erfüllen. Er bezahlt mit seiner Freizeit, die Spenden für den Wünschewagen seinen Eintritt. "Eine Wunschfahrt  kostet im Schnitt 1000 Euro", sagt Stahmann. Für das Jahr 2024 taxiert sie den finanziellen Aufwand für den Wünschewagen auf 120.000 Euro. Sie hoffe, diese über Spenden und Mitgliedsbeiträge einwerben zu können. Reserven gebe es derzeit keine, Finanzierungen durch Krankenkassen ebenfalls nicht. Allgemeine Kostensteigerung, die wegfallende öffentliche Förderung für das Sozialwesen und das abnehmende ehrenamtliche Engagement stellten das Projekt vor Herausforderungen, sagt Stahmann.

Neujahrsempfang der CDU und Bovenschultes Schirmherrschaft

Politische Unterstützung gibt es unter anderem von den Bremer Christdemokraten sowie dem Bürgermeister. "Die CDU Bremen lud den Wünschewagen mit einem Werbestand zum Neujahrsempfang ein", sagt Stahmann. Bürgermeister Andreas Bovenschulte (SPD) ist Schirmherr des Projektes. "Einmal noch an die See fahren, die Hochzeit der eigenen Tochter miterleben – es sind oft ganz bescheidene Wünsche, die das Team möglich macht. Wann immer ich dem Wünschewagen begegne, schau ich deshalb vorbei und bedanke mich persönlich bei den Ehrenamtlichen für ihren Einsatz", sagt er.

Etwas mehr als eine Stunde dauert Ömers Weltreise. Er konnte Hamburg und Rio sehen, Skandinavien und Amerika bereisen, startende Flugzeuge am Knuffingen Airport und drehende Karussells in Mitteldeutschland bestaunen. Das sind viele Eindrücke auf einmal, die es zu verarbeiten gilt. Yvonne Ruske sieht ihm die Reisestrapazen an. "Bist du müde?", fragt sie ihn und setzt sich zu ihm auf den Rollstuhl. Seine Augen wandern von rechts nach links, er grinst schelmisch. "Du bist ein Schnacker", entgegnet ihm die Pflegerin. Auch sie grinst.

Ruske und Ömer wirken gelöst, das Wünschewagen-Team ebenfalls, obwohl es an diesem Abend noch Stunden zu tun haben wird. Denn es wird noch ein weiteres Mal wegen Ömers großen Rollstuhls am Lift zum Ausgang des Miniatur-Wunderlandes hadern, ohne in Stress auszubrechen. Es wird noch 90 Minuten von Hamburg nach Bremen fahren, um ihren Gast nach Hause zu bringen, ohne sich über die Dauer zu beschweren. Es wird Ömer dazu noch zweimal zwischen Rollstuhl und Transportliege umlagern, ohne angestrengt zu stöhnen. Das erste Mal in der Kälte vor dem Miniatur-Wunderland. Nachdem das Trio dem 32-Jährigen in den Wünschewagen geholfen hat, schließt einer von ihnen erst die hintere, dann die Seitentür. Auf dieser prangt der Slogan des Projekts: „Der Wünschewagen – Letzte Wünsche wagen“.

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