Neliya Topchilo erzählt von ihrem Sohn. "Irgendwo in Kiew muss er sein, irgendwo in unserer Heimatstadt an der Front", sagt die 68-Jährige. Wann sie wieder Kontakt zu ihm haben wird, kann sie nicht sagen. "Er ruft uns an, wann immer er die Möglichkeit hat. Wir können ihn von hier aus nicht erreichen, deshalb warten wir." Neliya Topchilo ist mit ihrem Mann Oleh Oblamskyi aus der ukrainischen Hauptstadt geflüchtet. Am Donnerstag sind sie in Bremen angekommen, nach einer Flucht über die ukrainische Stadt Lwiw, die polnische Hauptstadt Warschau, Berlin und Hannover.
In Bussen und Zügen sind sie gefahren, dicht gedrängt mit anderen Menschen, die wie sie vor dem Krieg geflüchtet sind. An der polnisch-ukrainischen Grenze haben sie 24 Stunden im Stehen verbracht, wie die 68-Jährige erzählt. Auf der Fahrt von Warschau nach Berlin hätten sie stundenlang im Zug gestanden. Mehr als einen kleinen Rollkoffer und einen Rucksack konnte das Ehepaar nicht mitnehmen. Medikamente und ein paar Kleidungsstücke. "Eigentlich hatten wir noch einen größeren Koffer gepackt, den mussten wir wie alle anderen auf dem Bahnsteig stehen lassen. Jedes Gepäckstück hätte Platz für einen Menschen weggenommen", erzählt die Ukrainerin. "Als der Zug den Bahnhof verlassen hat, war der Bahnsteig voller Koffer."
Neliya Topchilo und Oleh Oblamskyi haben Kiew verlassen, als sich andere Familienmitglieder für die Flucht entschieden haben. Die Schwiegertochter mit den beiden Enkelkindern, nur ihr Sohn ist geblieben. Weil er musste, und weil er wollte, sagt die frühere Journalistin. "Jetzt verteidigt er unsere Stadt. Kiew wird beschossen und bombardiert, wir haben Explosionen gehört. Die Menschen verlassen Kiew in Panik und mit Tränen in den Augen, Unschuldige verlieren ihr Leben."
Die Türen zu den Messehallen 6 und 7 stehen kaum still. Über den ganzen Tag, auch nachts, kommen Menschen an. Wie Neliya Topchilo und Oleh Oblamskyi haben die meisten nur wenig Gepäck. Einen Koffer, eine Tüte, eine Tasche, die Kleidungsstücke, die sie tragen. "Rund 1100 Plätze stehen in beiden Hallen zur Verfügung, die Hälfte etwa ist bis jetzt belegt", sagt Thomas Pörschke, Koordinator des Arbeiter-Samariter-Bundes (ASB) in Bremen. Die Hilfsorganisation betreibt die beiden Hallen im Auftrag der Sozialbehörde. Leichtbauwände trennen die Räume voneinander ab, in denen die Menschen schlafen, sich zurückziehen, unter sich sein können. In den Hallen gibt es außerdem einen Essensbereich, eine WLAN-Zone und eine Spielecke für Kinder.
"Die Hilfsbereitschaft ist überwältigend", sagt Thomas Pörschke. Menschen melden sich und fragen, wie sie unterstützen, spenden und ehrenamtlich vor Ort helfen können. Dies organisieren und steuern wir, damit das bei den Geflüchteten ankommt, was dringend benötigt wird." Manche kommen spontan vorbei. Gabriele Plaumann hat eine Puppe unter dem Arm. "Die ist aus dem Jahr 1956", sagt die Bremerin. "Ich möchte sie gerne den Kindern überlassen, damit sie etwas zum Spielen haben." In einer Tüte hat sie außerdem Hygieneartikel mitgebracht. Aus den Medien habe sie erfahren, dass solche Dinge besonders benötigt würden. Thomas Pörschke leitet die 75-Jährige an eine ASB-Kollegin weiter. "Das Wichtige ist, dass die Spendenbereitschaft und Angebote von Ehrenamtlichen koordiniert werden."
Die Hilfsbereitschaft zieht sich laut dem ASB-Ehrenamtskoordinator durch alle Bereiche: "Vorhin hatte ich ein Gespräch mit Vertretern eines Bremer Unternehmens, das Gästewohnungen für geflüchtete Menschen zur Verfügung stellen will. Von der Telekom haben wir gerade 1000 SIM-Karten zum Telefonieren bekommen." Demnächst soll es Spielgruppen für Kinder geben, der ASB sei außerdem mit den "Suppenengeln" im Gespräch, die Essen an obdachlose Menschen ausgeben. "Die Idee ist, gemeinsam mit ukrainischen Frauen Suppen zu kochen", sagt Thomas Pörschke.
Alla Schnack empfängt zwei Frauen und ein Kind, die gerade angekommen sind. "Sie sind uns willkommen, und hier Sie sind in Sicherheit", sagt sie allen Flüchtlingen als erstes auf Ukrainisch. Alla Schnack ist vor 21 Jahren aus Russland nach Deutschland gekommen. Die Lehrerin ist als ehrenamtliche Übersetzerin für den ASB im Einsatz. Sie hilft den Menschen bei der Registrierung, begleitet sie zu ihrer Unterkunft in der Halle, informiert über WLAN-Zugänge, über Essenszeiten, Arztbesuche und vieles andere – und sie erfährt, was die Menschen in ihrer Heimat erlebt haben und was sie belastet. "Dazu gehört vor allem auch die Sorge um die Männer, die jetzt im Krieg kämpfen, um Familienangehörige, die noch in der Ukraine sind", sagt sie. "Das geht uns allen sehr nahe. Man übersetzt und hört zu, man hilft und informiert. Man funktioniert. In den Pausen dazwischen kommen die Emotionen hoch, und es fließen Tränen", sagt sie.
Die Bremerin hat Familie in Russland. Mit ihnen spricht sie über die Ukraine, über den Angriffskrieg. "Ich mache mir Sorgen, dass meine Familie in Russland nicht informiert ist, was dieser Krieg ist. Zuhause empfange ich auch russisches Fernsehen. Es wird berichtet, dass russische Truppen russischsprachige Menschen 'befreien'. Man begreift das nicht und schämt sich dafür. Millionen Menschenleben werden zerstört", sagt Alla Schnack.
Vier bis sechs Übersetzer im Einsatz
"In der Regel sind gleichzeitig vier bis sechs Übersetzerinnen und Übersetzer im Einsatz", sagt Thomas Pörschke. An der Wand der Registrierungsstelle hängen Plakate mit QR-Codes, über die mit dem Handy Informationen der Sozialbehörde auf Deutsch und Ukrainisch heruntergeladen werden können. "An der Registrierungsstelle stehen immer ein oder zwei Übersetzer bereit, um Fragen zu beantworten." 80 Prozent der Menschen in den Messehallen kommen laut dem ASB-Koordinator aus der Ukraine. "Bereits seit Dezember wird die Halle 6 für Geflüchtete aus anderen Ländern vom Arbeiter-Samariter-Bund betrieben."
Die Hallen sind als Notunterkunft eingerichtet. "Nachgelagert sind Übergangswohnheime, private Wohnungen, Zimmer oder Mietangebote. Die Flüchtlinge aus der Ukraine haben vollen Zugang zu den Hilfesystemen", erklärt Thomas Pörschke. Die Sozialbehörde bereitet sich darauf vor, viele weitere Menschen aufzunehmen, die vor dem Krieg in ihrem Land flüchten. "Dabei können wir auf die Erfahrungen aus den Jahren 2015 und 2016 zurückgreifen", sagt Behördensprecher Bernd Schneider. "Als zentrale Aufnahmestelle werden die Messehallen priorisiert, sollten die Plätze nicht mehr ausreichend sein, könnten auch Turnhallen genutzt werden. Es laufen auch Gespräche mit Immobilienbesitzern."
Neliya Topchilo und Oleh Oblamskyi wissen nicht, wie lange sie in ihrer Unterkunft in den Messehallen bleiben werden. "Wir werden sehen, wie sich das entwickelt. Wir sind sehr dankbar, dass wir in Bremen willkommen sind", sagt die 68-Jährige. Auch wenn die nächste Zukunft unklar ist, ist das Ehepaar überzeugt, dass sie nach Kiew zurückkehren werden. Zu ihrem Sohn. "Kiew wird nie fallen", sagt Oleh Oblamskyi. "Kiew wird nie an Russland gehen, Kiew ist die Ukraine."