Als aus dem Navigationsgerät zum dritten Mal „Bitte umdrehen“ tönt, ist Diana Scheffter an ihrem Ziel angekommen. Den weißen Kastenwagen parkt sie unter einer Gruppe von Bäumen. Zum Gepäck im Wagen gehören Fangnetze, Transportkörbe und Schutzkleidung. Die 56-Jährige kommt unangemeldet. Ihr Ziel ist eine kleine Holzhütte, dort soll eine Frau mit vielen Katzen leben. Scheffter ist Amtstierärztin beim Lebensmittelüberwachungs-, Tierschutz und Veterinärdienst des Landes Bremen. Fast täglich erlebt sie Geschichten, über die man Bücher schreiben könnte, wie sie sagt. Gleich wird eine weitere dazukommen.
Weit mehr als 500 Anrufe mit Tierschutz-Beschwerden gehen im Jahr in den Büros des Veterinäramts ein. Die meisten Anrufer sind Bürger, die ihre Beobachtungen weitergeben wollen. Meldungen und Anfragen kommen aber auch von der Polizei, eher selten stammen die Hinweise von niedergelassenen Kollegen, wie die Tierärztin berichtet. 500 Anrufe bedeuten in der Regel auch 500 Außeneinsätze.
Und auf jeden ersten Kontakt folgen zumeist weitere Kontrollbesuche – bei wohlhabenden Menschen wie bei Obdachlosen, bei Studierenden wie bei Rentnern, zählt Scheffter auf. Das Spektrum an Einsätzen ist groß: brennende Tiertransporte, getötete Enten, vereinsamte Papageien, verwahrloste Hunde. Zuständig in der Stadt Bremen sind zwei Amtstierärzte, die 56-Jährige ist eine von ihnen.
Das gesamte Umfeld im Blick
„Eigentlich sollen wir in Fluchtrichtung parken“, sagt Scheffter und beschließt, den Kastenwagen trotzdem nicht zu wenden. Sie legt sich ihre Bauchtasche um – „die Hände sollen frei bleiben“ – und wirft einen Blick in die grüne Akte. „Rentnerin, kein fester Wohnsitz, sechs Katzen, trotz Verpflichtung unkastriert, und ein Hund“, steht dort. Und: Die Frau soll gedroht haben, die Katzen auszusetzen.
Die Hütte befindet sich am Rand einer Kleingartensiedlung. Gardinen versperren den Blick ins Innere. „Hallo. Moin“, ruft die Amtstierärztin. Bevor sie klopfen kann, fliegt die Tür mit einem Krachen auf. „Lass mich bloß in Ruhe“, schreit die grauhaarige Frau ihr entgegen. „Ich rede nicht mit euch." Aus dem Dunkel der Hütte schießen mehrere Katzen in den Garten, eine französische Bulldogge trabt gemächlich auf Scheffter zu. Wenn die Ärztin überrascht ist, dann lässt sie es sich nicht anmerken. Sie hält Blickkontakt mit der Frau, erklärt freundlich, warum sie gekommen ist und begrüßt den Hund. Die Feindseligkeit verpufft so schnell wie sie gekommen ist. Und dann erzählt die Frau.
Natürlich habe sie keine Katze ausgesetzt, das sei ihr bloß in einem Wutanfall herausgerutscht, sagt sie. Und: Sie habe keine Wohnung. „Ich lebe hier nicht“, ruft sie Nachbarn zu, die das Bett in der dunklen Hütte nicht sehen dürfen. Geld für die Kastration der Katzen sei schon gar nicht da. Und dann: „Ich zeige Ihnen mal etwas.“
Wenn sie an einen Einsatzort wie diesen kommt, scannt Scheffter die Umgebung. Viele kleine Puzzleteile ergeben ein Gesamtbild. „Wenn ich einen Anhaltspunkt dafür finde, dass etwas nicht in Ordnung ist, dann fange ich an, Erbsen zu zählen“, sagt sie. Ihr Blick fällt auf das große Bett in dem kleinen Raum. Rote Bettwäsche, rotes Kopfkissen, darauf liegt eine Katze. Teller und Zeitschriften türmen sich auf einem Beistelltisch, am Bettende stapelt sich Wäsche. Ein Kanister Wasser steht neben dem Wasserkocher auf dem grauen Teppich. Es ist warm in dem Raum, der Luftstrom aus einem Ventilator wirbelt Katzenstreu auf. Die Frau hebt die Bettdecke an. Zwei Katzenbabys räkeln sich darunter, zwei weitere beißen sich gegenseitig in die kleinen Ohren.
Scheffter hört der Frau, die von Urlauben und untreuen Männern erzählt, zu. Ihre Arbeit hier ist getan. Fast. Das Katzenklo ist sauber, die Tiere gut genährt – auf alle elf Katzen trifft das zu. Nur kastriert müssten sie sein, und dafür wird die Amtstierärztin noch sorgen, wie sie ankündigt. Als sie zu ihrem Auto geht, steht die Frau vor der Hütte. Sie spricht mit ihren Tieren. Die Bulldogge antwortet mit einem Schnaufen, die Katzen streichen um ihre Beine. „Spannend, oder?“, fragt Scheffter und lächelt. Dann greift die Amtstierärztin zur nächsten Akte.
Ihre Arbeit ist im Tierschutzgesetz formuliert, in Paragraf 1 heißt es: „Niemand darf einem Tier ohne vernünftigen Grund Schmerzen, Leiden oder Schäden zufügen.“ Paragraf 16 formuliert den Auftrag, diesen Schutz durchzusetzen: „Die zuständige Behörde trifft die zur Beseitigung festgestellter Verstöße und die zur Verhütung künftiger Verstöße notwendigen Anordnungen.“ Scheffter zeigt Fotos, die teilweise schwer anzuschauen sind: 105 Katzen in einer kleinen Hausmeisterwohnung, ein verwesender Hund auf einem Teppich, ein erstochenes Schwein.
Wenn Menschen Tiere sammeln
Nicht selten bekommen es die Behördenvertreter mit sogenanntem Animal Hoarding zu tun. Der Begriff aus dem Englischen beschreibt das krankhafte Sammeln und Horten von Tieren. Dabei werden laut Scheffter mehrere Typen von Sammlern unterschieden: Retter, Züchter, Ausbeuter oder übertriebene Pfleger. Viele Tiere seien aber nicht automatisch ein Fall für den Tierschutz.
Erst wenn der Halter den Mindestbedarf an Nahrung, Beschäftigung, Hygiene und tierärztlicher Versorgung nicht mehr gewährleistet, dürfen Amtstierärzte einschreiten. 2016 bis Mitte 2018 sind laut dem Deutschen Tierschutzbund 104 Fälle von „Animal Hoarding“ bekannt geworden. In mehr als der Hälfte der Fälle horten alleinstehende Frauen, gefolgt von Männern und Paaren beziehungsweise Familien, sagt die Statistik.
Der nächste Einsatz: Am Ende eines weißen Flures öffnet ein Mann die Wohnungstür. Scheffter stellt sich als Amtstierärztin vor. Der Mann tritt heraus und zieht die Tür schnell wieder hinter sich zu. Scheffter hat die leeren Weinflaschen trotzdem gesehen, und sie hat den beißenden Uringeruch aus der Wohnung deutlich wahrgenommen. „Nur noch eine Woche, bitte", sagt der Mann. Er weiß, dass er seinen Hund schon vor neun Tagen hätte einschläfern lassen müssen.
Der Hund ist ein Tibet-Terrier, 15 Jahre alt, er hat einen Tumor am Auge. Um das Leiden des Tieres nicht zu verlängern, erhöht Scheffter den Druck und erklärt dem Mann die Situation. „Ach, das fällt mir aber so schwer, so schwer", sagt er. Die Tierärztin kann den Mann verstehen, aber sie versteht vor allem das Leiden des Hundes. Sieben Tage gibt sie dem Hundehalter Zeit, sich von seinem Tier zu verabschieden.
Die Amtstierärztin hat kaum Zeit zum Durchatmen, quer durch die Stadt geht es zum nächsten Einsatzort. Am Ende des Tages wird die 56-Jährige dokumentieren: „Vogelnetze am Hotelbalkon in Ordnung“, „Halter von zwei Huskies, die angeblich auf einem Balkon leben, nicht angetroffen“, „Reitverbot für ein verletztes Tier“, „aktuelle Tierhalteerlaubnis im Zirkus vorhanden, Tiere versorgt“ sind nur einige der Einträge an diesem Tag.