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Sozialarbeiter über Bahnhof "Es liegt ein erhöhter Stress auf der Szene"

Durch die Kontrollen am Bremer Hauptbahnhof steigt in der Drogenszene das Stresslevel - mit teils unschönen Auswirkungen, sagen Cornelia Barth und Lea Albrecht von der Beratungsstelle Comeback im Interview.
15.04.2023, 05:00 Uhr
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Von Kristin Hermann

In den vergangenen Monaten wurde viel über den Bremer Hauptbahnhof und die dortige Drogenszene diskutiert, zahlreiche Maßnahmen sollten die Zustände verbessern. Wie bewerten Sie die aktuelle Lage?

Cornelia Barth: Die Situation auf der Straße ist weiter problematisch. Positiv ist, dass wir ergänzende finanzielle Mittel für Sozialarbeit bekommen haben, unter anderem für muttersprachliches Streetwork. Das ist nötig, denn die Szene wächst rasant und hat sich von der Zusammensetzung verändert. Es gibt eine massive Steigerung von Osteuropäern und Geflüchteten. Zudem sind mehr Klientinnen und Klienten aus dem Umland unterwegs.

Lea Albrecht: Die meisten dieser Leute haben gleich mehrere Probleme, die sich gegenseitig bedingen. Sobald man keine Leistung vom Jobcenter bekommt, ist man nicht mehr krankenversichert. Wenn man nicht mehr krankenversichert ist, kriegt man nicht mehr den normalen Zugang zu Substitution oder Entgiftung. Da spielen auch gesellschaftliche Probleme rein, wie die angespannte Situation auf dem Wohnungsmarkt.

Um die Dealer-Szene zu zerschlagen, hat die Polizei seit Monaten ihre Kontrollen verstärkt. Welche Auswirkungen hat das?

Barth: Es liegt ein erhöhter Stress auf der Szene. Wir haben Nutzerinnen und Nutzer, die berichten, dass ihre Konsumutensilien beschlagnahmt werden, wo man die Verhältnismäßigkeit hinterfragen könnte. Das trifft nicht auf alle Kontrollen zu, aber eben auf einige. Seit mehr als einem Jahr beobachten wir eine zunehmende Aggressivität der Szene. Dies liegt sicher auch an den Substanzen und fehlendem Schlaf, aber die polizeilichen Kontrollen verstärken den Stress und damit gegebenenfalls auch die Aggressivität.

Albrecht: Früher kamen unsere Streetworker intensiver auf der Straße mit Leuten ins Gespräch. Das ist nun schwieriger geworden, da die gesamte Szene unruhig ist. Bei Menschen, die traumatische Fluchterfahrungen gemacht haben, können die Kontrollen zudem auf unschönen Nährboden fallen, weil die Betroffenen das Gefühl haben, die Flucht geht weiter.

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Einige Drogenkranke beklagen, dass sie sich nicht mehr erwünscht fühlen.

Albrecht: Die meisten unserer Klienten möchten nur, dass man ihnen auf Augenhöhe begegnet. Davon sind wir gesellschaftlich gerade weit entfernt. Bei der Diskussion um den Bahnhof stellt sich die Frage, wem eigentlich die Stadt gehört und ob diese Menschen nicht auch ein Recht auf öffentlichen Raum haben.

Barth: Ich kann nachvollziehen, dass man Bereiche wie den Bahnhofsplatz umgestaltet und der erste Eindruck der Stadt ein anderer als die Drogenszene sein soll. Aber es braucht mehr alternative Flächen, auf denen sich die Menschen ungestört aufhalten dürfen.

Um die Drogenszene zu entzerren, hat man in der Friedrich-Rauers-Straße eine alternative Aufenthaltsfläche ausgewiesen. Wie gut kann eine Verlagerung funktionieren?

Barth: Ein Teil sucht inzwischen die dortige Akzeptanzfläche auf. So groß ist der Bereich aber nicht, weshalb zusätzliche Orte sinnvoll wären. Nach wie vor hält sich ein ganzer Schwung Klienten vor unserem Kontakt- und Beratungszentrum im Tivoli-Hochhaus auf, in das täglich mehr als 120 Nutzerinnen und Nutzer kommen. Unsere Sozialarbeiter melden zudem zurück, dass sich einiges zu den Szenehotspots in den Stadtteilen verschoben hat. Andere sind in Kleingruppen unterwegs. Dadurch sind die Menschen für uns schwerer zu erreichen.

In der Friedrich-Rauers-Straße befindet sich auch der provisorische Drogenkonsumraum, unweit davon soll ein festes Angebot entstehen. Wie groß schätzen Sie den Bedarf ein?

Albrecht: In den vergangenen anderthalb Jahren hat sich die Zahl der Konsumvorgänge, die bei uns stattfinden, verdreifacht. Damit sind wir an der Auslastungsgrenze und müssen immer wieder Menschen auf die Warteliste setzen, weil alle Plätze belegt sind. Täglich verzeichnen wir mehr als 100 Besuche und haben etwa 1000 Erstgespräche geführt.

Sie arbeiten beide mit Drogenkranken zusammen. Was bringt Menschen dazu, jahrelang harte Drogen zu konsumieren?

Albrecht: Jede Droge bedient ein anderes Bedürfnis: Einige wirken eher anregend, aufputschend und stimulierend, andere sedierend. Jemand, der Kokain nimmt, erhofft sich von der Wirkung etwas anderes als jemand, der Heroin konsumiert.

Barth: Ich kenne keine Biografie, die nicht in irgendeiner Form von Traumata und Gewalt geprägt ist. Sucht ist oft der Ausweg, um gewisse Ängste und Schmerzen nicht mehr spüren zu müssen und sich stärker zu fühlen oder um überhaupt zurechtzukommen.

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Crack wird im Zusammenhang mit den Problemen am Bahnhof immer wieder genannt. Was ist das Gefährliche an der Droge?

Albrecht: Es führt unmittelbar zu einem intensiven Rausch, der aber nur kurz anhält. So entsteht das starke Bedürfnis, nach wenigen Minuten wieder zu konsumieren. Die Abhängigen schlafen oder essen kaum noch, was mit massiven gesundheitlichen Problemen und sozialer Verelendung einhergeht. Für die Drogenhilfe sind die Menschen schwer zu greifen.

Barth: Crack boomt seit etwa 2018 in Bremen und zieht unterschiedliche Gruppen an, darunter auch jene, die vorher stabil substituiert oder eher der Alkohol- und Wohnungslosenszene zuzuordnen waren.

Welche Angebote bräuchte es, um noch mehr Drogenkranke zu erreichen?

Barth: Um Klienten Ruhe zu verschaffen, bräuchten wir weitere niedrigschwellige Angebote, vor allem im Substitutionsbereich. Die Substitution muss voraussetzungslos, das heißt ohne Versicherung, möglich sein, damit überhaupt der Wiedereinstieg ins Leistungssystem geschafft werden kann. Wir würden außerdem die Eröffnung einer Diamorphin-Ambulanz begrüßen. Eine 24-Stunden-Einrichtung am Bahnhof wäre sicherlich sinnvoll sowie eine interkulturelle Therapieeinrichtung.

Das Gespräch führte Kristin Hermann.

Zur Person

Cornelia Barth (Foto links) ist Sozialarbeiterin und seit 1992 in der Drogenhilfe tätig. Von 2017 bis 2022 war sie zudem Vorsitzende des Bremer Landesverbandes der Linken. Gemeinsam mit Suchttherapeutin Lea Albrecht (Foto rechts) und einem weiteren Kollegen leitet sie die Drogenhilfeeinrichtung Comeback.

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