Das hätte er sich ja denken können. In der hinteren Ecke des Wandschranks hat Andreas Mai bei seiner Inspektion doch tatsächlich noch ein paar Krümel entdeckt. „Ja, ja“, stöhnt er, „ein Seemann hat sauber gemacht.“ Der Tadel ist nicht ernst gemeint, ein Spaß vielmehr, aber Ejike Nwoye hat trotzdem verstanden. Der junge Mann holt einen Putzlappen und wischt die Fläche sauber. Jetzt sieht es besser aus.
Andreas Mai ist der Verwaltende Kapitän von Haus Seefahrt, das in Grohn den Seefahrtshof betreibt. Ejike Nwoye hat bisher auf der Anlage gewohnt. An diesem Tag ist Wohnungsübergabe, Nwoye zieht aus. Deshalb machen die beiden Männer an diesem Vormittag ihre Runde.
Nwoye hat an der Hochschule Bremen Nautik studiert. Vor gut drei Jahren ist er auf dem Seefahrtshof eingezogen. 40 Quadratmeter, zwei Zimmer, Einbauküche, Bad. „Etwas Besseres konnte mir gar nicht passieren“, sagt er heute. Das Quartier, die Nachbarn, „ich hatte eine wunderschöne Zeit hier“, sagt Nwoye.

Andreas Mai ist der Verwaltende Kapitän von Haus Seefahrt. Er war 24 Jahre lang Bremens Hafenkapitän.
40 Bewohner beherbergt die Einrichtung; eine Institution mit langer und besonderer Geschichte. Bis ins Mittelalter muss Andreas Mai zurück, wenn er Menschen erklären soll, was es mit dem Haus Seefahrt und dem Seefahrtshof auf sich hat. In aller Kürze: In den acht Häusern auf dem Gelände leben alte Kapitäne, allein oder mit ihren Ehefrauen, Witwen und andere Seeleute, die als „bedürftig“ gelten, wie es in der Stiftungsurkunde von 1545 heißt.
Seit ein paar Jahren gehören auch Nautik-Studenten und geflüchtete Seefahrerfamilien zu den Bewohnern. Für sie alle gilt: Wer nachweisbar bedürftig ist, zahlt keine Miete, diejenigen, die über einer bestimmten Bemessungsgrenze liegen, zahlen eine Summe, die sich am ortsüblichen Preis orientiert, „wir bewegen uns bei der Festlegung aber im unteren Bereich“, sagt Mai.
Die hellrot verklinkerten Wohngebäude aus den 1950er-Jahren sind wie ein Hufeisen angeordnet, in der Mitte eine gepflegte Rasenfläche, am offenen Ende steht das Verwaltungsgebäude. 20.000 Quadratmeter groß ist die parkähnliche Anlage am Ende einer Sackgasse, schön ruhig ist es hier und grün. Besucher und Bewohner betreten das Gelände durch ein barockes Tor von 1665. Es ist stummer Zeuge der Geschichte des Seefahrtshofes, hat Kriege und mehrere Umzüge unversehrt überstanden.

„Etwas Besseres konnte mir gar nicht passieren“, sagt Ejike Nwoye über seine knapp drei Jahre auf dem Seefahrtshof. Inzwischen ist er Zweiter Offizier.
Als wohl „ältesten Sozialfonds Europas“ könnte man die Stiftung Haus Seefahrt bezeichnen, die sich aus Spenden finanziert. Zum allergrößten Teil werden sie bei der alljährlichen Schaffermahlzeit im Rathaus gesammelt, in diesem Jahr am 14. Februar. Andreas Mai, 67, und früher selbst als Kapitän zur See gefahren, kümmert sich ehrenamtlich mit einem kleinen Team um das Tagesgeschäft. An diesem Vormittag gehört die Wohnungsübergabe dazu. Mai kontrolliert, ob noch alles da ist und heile.
Wo die beiden Männer vorhin über das deutsche Verständnis von Sauberkeit gewitzelt haben – bei dieser Gelegenheit kann Nwoye gut das Buch zurückgeben, das Mai ihm zum Einzug geliehen hat. „Culture Shock Germany“ heißt es, „Kulturschock Deutschland“. „Ich dachte“, sagt Mai auf seine ganz eigene trockene Art, „die Lektüre könnte Ejike die Eingewöhnung erleichtern.“
War gar nicht nötig. Nwoye winkt ab. Er habe sich vom ersten Tag an wohlgefühlt. Gleich am Morgen nach seinem Einzug hat ihn ein älterer Kapitän von nebenan mit Tee und Brot zum Frühstück überrascht. Mehrere Grillabende, Matjes-, Kohl- und Pinkelessen später zieht Nwoye jetzt aus. Er freut sich, auf eigenen Beinen zu stehen, aber leicht fällt ihm der Abschied nicht.

Am Tag, als der WESER-KURIER zu Besuch ist, ist sogar geflaggt. Aber das hat nichts mit unserem Besuch zu tun, sondern mit der Session der Stiftung Haus Seefahrt am Nachmittag.
Nwoye ist in Nigeria geboren und aufgewachsen, hat dort Geologie studiert, wollte eigentlich aber schon immer Seemann werden. „Ich bin dem Haus Seefahrt sehr dankbar“, sagt er, „dank der Stiftung konnte ich mich ohne Sorgen auf mein Studium konzentrieren.“ Er hat jetzt eine eigene Wohnung in Schwanewede und arbeitet als Zweiter Offizier bei German Tanker Shipping in der Überseestadt. In wenigen Tagen fährt er wieder raus auf See.
Es sind Geschichten wie die von Ejike Nwoye, die Andreas Mai zeigen, dass es sich lohnt, sich zu engagieren. „Halb zog es ihn, halb sank er hin“, sagt er selbst über den Tag, an dem er vor gut vier Jahren zusagte für das Amt als Verwaltender Kapitän. Er gibt zu, dass er die Größe der Aufgabe vielleicht ein wenig unterschätzt habe. Die Geschichte von Haus Seefahrt ist bewegend, und sie wird es auch bleiben.
Wichtige Entscheidungen wollen getroffen werden. Die Wohnungen sind in die Jahre gekommen. Erste Renovierungen haben stattgefunden, weitere stehen an. Vielleicht muss man auch die Zuschnitte verändern, bestimmt müssen die Unterkünfte barrierefreier werden. „Der Mensch wohnt heute anders“, sagt Mai, „größer. Und er bleibt gern länger in den eigenen vier Wänden in der gewohnten Umgebung.“ Was heißt das für künftige Mieter? Wer zieht hier noch ein?
An diesem Tag stellt sich Kiril Yerotskyi vor. Er übernimmt die Wohnung von Ejike Nwoye. Der junge Mann stammt aus der Ukraine, aus Odessa am Schwarzen Meer, und studiert wie Nwoye an der Hochschule Bremen „Nautical Sciences“. Wie sein Vater will Yerotskyi Kapitän werden. Der nächste Schritt dorthin ist die Bleibe in Grohn.
Kapitän Mai führt den Studenten durch die Zimmer, zeigt ihm Bett und Schränke, Tische und Stühle. „Gläser und Geschirr sind vorhanden“, sagt Mai auf Englisch, „Töpfe und Pfannen nicht.“ 140 Euro an Nebenkosten muss der Student selbst tragen und sich um Strom kümmern. Und der Rest? „Es gibt keinen Rest“, sagt Mai. Yerotskyi hat es die Sprache verschlagen. Er wusste zwar, welches Glück er hat, dass er auf den Seefahrtshof ziehen darf. Aber dass es so gut laufen würde? „Vielen Dank“ bringt er schließlich hervor. In zwei Tagen soll er wiederkommen und den Mietvertrag unterschreiben.