Das Bremer Landesamt für Verfassungsschutz hat die Bevölkerung aufgerufen, sich stärker am Kampf gegen den Rechtsex-tremismus zu beteiligen. Der bundesweit einmalige Appell einer Sicherheitsbehörde ist die Reaktion auf jüngste Gewalttaten von Rechtsradikalen, wie der Mord an den Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke und der Anschlag in Halle. „Extremismusbekämpfung geht uns alle an“, sagte der Bremer Verfassungsschutz-Chef Dierk Schittkowski am Donnerstag in einem Pressegespräch. Seine Behörde wolle ein Frühwarnsystem sein, benötige dafür aber Hinweise aus der Öffentlichkeit: „Bürgerinnen und Bürger sollten ihr Unbehagen im Kontakt mit einem mutmaßlichen Extremisten nicht für sich behalten oder gar dulden.“
Deutschlandweit sind es nach Einschätzung des Bundesamtes für Verfassungsschutz 12 700 Neonazis und weitere Rechte, die im Zusammenhang mit ihrer Gesinnung bereits gewalttätig wurden oder dies zumindest ankündigen. Die Polizei stuft aus diesem Kreis 43 Personen als Gefährder ein, das sind Menschen, denen ein Attentat zugetraut wird. Holger Münch, ehemaliger Bremer Polizeipräsident und heute Chef des Bundeskriminalamts, zweifelt diese Zahl als zu gering an. Mit den Ländern solle nun in Fallkonferenzen geprüft werden, welche Personen gegebenenfalls hinzugerechnet werden müssten.
In Bremen sind laut Verfassungsschutz rund 80 Rechtsextremisten bekannt, die als gewaltorientiert gelten. Die Zahl der Gefährder liege in einem niedrigen einstelligen Bereich. „Von denen ist zurzeit aber niemand auf freiem Fuß“, erklärte Schittkowski. Seiner Beobachtung nach versuchten insbesondere Extremisten der Neuen Rechten aus der sogenannten Identitären Bewegung die Gesellschaft zu infiltrieren. Sie forderten ihre Anhänger auf, sich zum Beispiel als Schöffen, Gewerkschaftsvertreter oder Betriebsräte wählen zu lassen. In einem Fall sei seine eigene Behörde betroffen gewesen – ein Bewerber, der als Rechtsextremer enttarnt wurde.
Keine Entspannung bei islamistischer Gefahr in Sicht
Nach einer langen Phase, in der die Sicherheitsbehörden vor allem den Islamismus ins Visier nahmen, bleibt diese Aufgabe nach Einschätzung der Bremer Verfassungsschützer zwar in gleichem Maße bestehen, bekommt bei der Arbeitsbelastung jetzt aber zunehmend Konkurrenz: „Bei der islamistischen Gefahr ist keine Entspannung in Sicht, so schnell ändern sich Menschen nicht“, sagte Schittkowski. Gleichzeitig nehme schleichend der Rechtsradikalismus zu. „Meist fängt das damit an, den gesellschaftlichen Diskurs deutlich nach rechts zu verschieben, nach dem Motto: Das wird man doch mal sagen dürfen.“
Das Bundesamt für Verfassungsschutz fordert 300 neue Stellen, um seine Arbeit im Bereich Rechtsextremismus zu intensivieren. Das Bundeskriminalamt hat 440 zusätzliche Planstellen beantragt. Von Bremer Seite gibt es dazu noch keine Zahlen. Im Landesamt für Verfassungsschutz sind 70 Mitarbeiter beschäftigt. Schittkowski hielt sich bedeckt, ob weiteres Personal angefordert wird: „Es ist völlig in Ordnung, wenn bei den Bundesbehörden aufgestockt wird, wir an der Basis haben aber noch andere Möglichkeiten.“ Eine davon sei das Mitwirken der Bevölkerung.
Der Behördenleiter wirbt dafür, den Verfassungsschutz als Teil der Gesellschaft zu sehen: „Wir sind kein abgeschotteter Verein, der nur im Geheimen operiert.“ Er wünsche sich, dass die Hemmschwelle sinke, damit es bei Bedarf einen regelrechten Austausch gebe. Die Hinweise würden selbstverständlich vertraulich behandelt, niemand müsse besorgt sein, in Gefahr zu geraten. Zum Bereich Islamismus klingele in der Behörde fast täglich das Telefon, Verdachtsfälle mit rechtsradikalem Hintergrund würden dagegen kaum gemeldet. „Manchmal klärt sich das schnell auf und mündet nicht in Strafverfolgung. Dann sind wenigstens Ängste abgebaut worden.“
Dass nach der Affäre um Hans-Georg Maaßen, den früheren Chef des Bundesamtes für Verfassungsschutz, und nach dem Ermittlungsdesaster im Zusammenhang mit den NSU-Morden das Vertrauen in den Sicherheitsapparat beschädigt ist, räumt Schittkowski ein: „Das wird uns noch zehn Jahre nachhängen.“ In Bremen habe er sich für seine Behörde gleichwohl zum Ziel gesetzt, sich so weit es geht zu öffnen: „Wir sind kein Verfassungsschutz, über den man am besten nicht redet, sondern einer, mit dem man redet.“
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