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Aktionsbündnis Wohnen „Unsere Aufgabe ist es, zu sticheln“

Ein, zwei Jahre, so lange wollte das "Aktionsbündnis Menschenrecht auf Wohnen" ursprünglich aktiv sein. Nun sind daraus zehn geworden. Zeit für ein Gespräch über Wohnungsnot, Mietpreise und Obdachlosigkeit.
08.09.2022, 05:00 Uhr
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„Unsere Aufgabe ist es, zu sticheln“
Von Marc Hagedorn

Was bedeuten vier Wände und ein Dach über dem Kopf für den Menschen?

Joachim Barloschky: Alles. Wohnen ist das A und O des menschlichen Daseins. Es ist so wichtig, seinen eigenen Schlüssel zu haben, eine Tür hinter sich schließen zu können, selbst zu entscheiden, wem ich die Türe öffnen möchte und wem nicht. In seiner Wohnung kann der Mensch Mensch sein mit all seinen Eigenarten und Verrücktheiten. Dazu gehört auch die Nachbarschaft, die Gemeinschaft; Mitmenschen, mit denen der Mensch sich austauschen kann.

In Bremen ist vor zehn Jahren das „Aktionsbündnis Menschenrecht auf Wohnen“ entstanden. Was war der Auslöser dafür?

Im Prinzip gab es zwei Geburtshelfer damals, einer davon war die Winterkirche der Liebfrauengemeinde. Die Kirche hat damals ihre Tore geöffnet für arme und obdachlose Menschen. Sie konnten dorthin kommen, um Ruhe zu finden, eine Suppe zu löffeln, Gesprächspartner zu treffen. Im Rahmen der Winterkirche gab es eine öffentliche Veranstaltung zum Thema Wohnungslosigkeit, zu der der damalige Bausenator Joachim Lohse (Grüne) eingeladen war. Er war sozusagen der zweite Geburtshelfer.

Weil er sich des Themas angenommen hat?

Von wegen. Die Veranstalterin eröffnete die Runde damals mit den Worten, dass der Senator abgesagt habe und auch kein Referent komme, sodass der Abend jetzt beendet sei. Da sind wir Teilnehmer aufgestanden und haben gesagt: Nicht mit uns! Das lassen wir uns nicht gefallen! Ein paar Tage später haben wir dann die erste kleine Arbeitsgruppe gegründet.

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Wer gehörte dazu?

Das waren Menschen, die in der Wohnungslosenarbeit tätig waren. Das waren interessierte Bürger und kritische Geister wie ich. Und das sind bis heute die Betroffenen selbst, also Wohnungslose. Wir sind ein harter Kern von 30 Leuten, der sich regelmäßig trifft, auf Augenhöhe und ganz ohne Satzung oder Mitgliedsbeiträge diskutiert und macht. Wir sind, kurz gesagt, Menschen, die es nicht akzeptieren wollen, dass in einem der reichsten Länder der Welt nicht jeder Mensch ein Dach über dem Kopf hat.

Wo haben Sie vor zehn Jahren mit Ihrer Arbeit angesetzt?

Wir haben das Problem Wohnungslosigkeit zum Thema in der Stadt gemacht. Unser Motto war: Wir klagen an! Und zwar die Wohnungsnot! Es gab damals nur sehr begrenzt ein Bewusstsein für dieses Thema. Das ist heute anders, und wir freuen uns, dass wir unseren Teil dazu beigetragen haben, etwa mit der Demo „Die Stadt muss allen gehören“ vor drei Jahren, als 1500 Menschen mitgemacht haben.

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Seit zehn Jahren existiert das Aktionsbündnis jetzt – ein Grund zum Feiern?

Das haben wir uns auch gefragt. Einerseits ist viel passiert. Wir konnten als Bündnis Mietern bei ihrem Kampf gegen die großen Wohnungskonzerne helfen, wie zum Beispiel an der Holsteiner Straße. Es gibt bei großen Neubauvorhaben jetzt eine Quote von 30 Prozent an Wohneinheiten, die Sozialwohnungen sein müssen. Die Laufzeit, in der Sozialwohnungen als Sozialwohnungen gelten, ist von 20 auf 30 Jahre erhöht worden. Das Projekt Housing First ist in Bremen angelaufen…

… also dass Obdachlose bedingungslos eine Wohnung erhalten und sich aus dieser Position heraus um ihre anderen Probleme kümmern können …

… das ist eine völlige Umkehr der bisherigen Praxis. Housing First und die anderen Themen haben wir mit Fachtagungen und Aktionen angeschoben und begleitet. Aber trotzdem ist vielen von uns nicht nach Feiern zumute.

Weil es Ihnen eigentlich am liebsten wäre, wenn es das Aktionsbündnis gar nicht mehr geben müsste?

Ein, zwei Jahre wollten wir damals aktiv sein, jetzt sind es zehn. Man muss die Fortschritte anerkennen, auch, dass Bremen inzwischen das fünfte Wohnungsbauprogramm aufgelegt hat und 50 Millionen Euro investiert.

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Dafür könnten 560 Sozialwohnungen gebaut werden …

… das ist ein Anfang, aber das wird nicht reichen. Bremen hatte in den 1980er-Jahren 80.000 Sozialwohnungen, jetzt wäre der Senat froh, wenn er die Zahl 8.000 erreichen würde. Dazu steigen die Mieten seit Jahren enorm, bei Neuvermietungen in Bremen um 20 Prozent in den vergangenen fünf Jahren. Die Armutsquote wird größer. Es fehlt an bezahlbarem Wohnraum. Die Mieten in Bremen mögen günstiger sein als in München oder Berlin, aber dafür ist die Mietbelastung hier höher als in den meisten anderen Städten. Fast die Hälfte der Bremer Haushalte müssen über 30 Prozent ihres Geldes für die Miete aufbringen. Und darin sind noch nicht die gestiegenen Energiekosten eingerechnet.

Was heißt das für den Winter?

Ich treffe Menschen, zum Beispiel Rentnerinnen, die zur Miete wohnen, die mir sagen: ,Ich habe Panik‘, die sagen: ,Ich werde die Stromrechnung nicht bezahlen können.‘ Deshalb ist es wichtig, dass wir als Aktionsbündnis beim Thema Wohnen und Mieten am Ball bleiben.

Am Freitag tun Sie das ab 14 Uhr mit einer kleinen Feierstunde und einer Ausstellung im DGB-Haus und um 16 Uhr mit einer Kundgebung vor dem Hauptbahnhof.

Und zu beiden Veranstaltungen sind alle Bremer herzlich eingeladen. Wir haben den Hauptbahnhof nicht zufällig als Veranstaltungsort gewählt. Dort finden gerade Verdrängungsprozesse statt …

Sie meinen die regelmäßigen Aktionen von Polizei und Ordnungsamt gegen Drogenkriminalität und Alkoholmissbrauch?

Das ist ein Problem für die Wohnungslosen. Sie werden auf diese Weise von dort vertrieben. Das zeigt uns: Unsere Aufgabe ist nach wie vor, aufmerksam zu machen, zu sticheln und die unangenehmen Fragen zu stellen.

Das Gespräch führte Marc Hagedorn.

Zur Person

Joachim Barloschky (70)

ist Sprecher des „Aktionsbündnisses Menschenrecht auf Wohnen“. Er gehört auch zu den Gründungsmitgliedern. Barloschky, der verheiratet ist und drei Kinder hat, war jahrelang Quartiersmanager in Tenever.

Zur Sache

Zwei Bremer im Bundesvorstand

Seit dem Jahreswechsel läuft Housing First in Bremen. Auch in anderen Städten gibt es das Projekt, in Berlin, Düsseldorf, Köln und Nürnberg. Nun haben sich die verschiedenen Housing-First-Vertretungen bei einem Treffen in Bremen zu einem Bundesverband zusammengeschlossen. Im Bundesvorstand sind aus Bremen Anne Blankemeyer und Moritz Muras dabei. Housing First wird in Bremen im Trägerverbund von den Vereinen Wohnungshilfe und Hoppenbank umgesetzt. 

"Mit dem Bundesverband wollen wir Housing First als Instrument der Obdachlosenhilfe stärken und dauerhaft etablieren", sagt die Bundesverbandsvorsitzende Corinna Müncho, "wir wollen weg von einzelnen Modellprojekten hin zu einer Institutionalisierung mit festen Strukturen."

Beim Housing-First-Ansatz erhalten Wohnungslose als Erstes eine Wohnung. Alle weiteren Schritte, etwa die sozial-psychologische Begleitung, sind dem nachgeordnet. Das heißt: Wer eine Wohnung bekommt, verliert sie nicht mehr, sondern kann zur Neuordnung des eigenen Lebens übergehen.

In Bremen leben schätzungsweise 600 Obdachlose. Housing First hat sich vor allem im skandinavischen Ausland bewährt. Im Durchschnitt gelingt es dort in vier von fünf Fällen, die Obdachlosigkeit dauerhaft zu beenden. Finnland hat sich aufgrund dieser Erfahrungen das Ziel gesetzt, die Obdachlosigkeit bis 2027 komplett abgeschafft zu haben.

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