Viele bulgarische Zuwanderer in Bremerhaven bezogen zu unrecht Sozialleistungen, doch manche waren zugleich Opfer. Das wurde am Mittwoch im Untersuchungsausschuss der Bürgerschaft deutlich.
Monatelang wurde über sie geredet, jetzt erstmals mit ihnen: Mehrere Zuwanderer aus Bulgarien, die seit einigen Jahren in Bremerhaven leben, sind am Mittwoch vom Untersuchungsausschuss der Bürgerschaft zum organisierten Sozialbetrug in der Seestadt vernommen worden.
Sie schilderten dem Gremium die Umstände, unter denen sie sich eine Existenz aufzubauen versuchten, und wie sie mit zwei dubiosen Vereinen in Kontakt kamen, die im Zentrum staatsanwaltlicher Ermittlungen stehen.
Zwischen 2013 und 2016 bezogen zeitweise über 1000 Migranten aus Südosteuropa zu unrecht Hartz-IV-Leistungen. Die Vereine „Agentur für Beschäftigung und Integration“ (ABI) und „Gesellschaft für Familie und Gender Mainstreaming“ stehen im Verdacht, die Bulgaren mit Scheinarbeitsverträgen ausgestattet und ihnen so einen Anspruch auf aufstockende Sozialleistungen durch das Jobcenter verschafft zu haben. Über sechs Millionen Euro an staatlichen Geldern sollen auf diese Weise versickert sein.
Einblick in die düstere Welt südosteuropäischer Arbeitsmigranten
Um es vorwegzunehmen: Von keinem der drei Bulgaren, die dem Ausschuss am Mittwoch Rede und Antwort standen, waren Belege für diesen Kernvorwurf gegen ABI & Co. zu bekommen. Wohl aber erhielten die Abgeordneten Einblick in die düstere Welt südosteuropäischer Arbeitsmigranten, die in Bremerhaven von skrupellosen Geschäftemachern rücksichtslos ausgebeutet wurden – und immer noch werden. Ein typischer Vertreter dieser Personengruppe war der erste Zeuge, ein 32-jähriger Fischer, der nicht lesen und schreiben kann. Der Mann war bereits 2007 aus einer ökonomisch abgehängten Region im türkischsprachigen Teil Bulgariens in die Seestadt gekommen. Mehrere Jahre lang hielt er sich dort mit Tagelöhner-Jobs über Wasser.
Für 6,50 Euro pro Stunde arbeitete er nach eigener Darstellung für Subunternehmer der Lloyd-Werft als Putzkraft auf Schiffen. Verlässliche Einkünfte über einen längeren Zeitraum gab es offenbar nie. "Wir wurden am Abend zuvor angerufen, wenn es Arbeit gab", berichtete der 32-Jährige dem Ausschuss. Mit dem ABI-Vorsitzenden Selim Öztürk sei er erst vor zwei Jahren in Kontakt gekommen. "Alle Bulgaren in Bremerhaven gehen zu ihm", denn Öztürk regele viele Behördendinge für die Zuwanderer. Für jede Begleitung zu einer Behörde habe Öztürk 20 Euro in bar verlangt.
Löhne zwischen fünf und sieben Euro
"Wir dachten, der arbeitet für das Jobcenter", so der Zeuge. Und Öztürk tat offenbar auch nichts, um solchen Missverständnissen entgegenzutreten. Der ABI-Vorsitzende ließ sich nach Darstellung des Zeugen bereits ausgefüllte Formulare von seinen Klienten unterschreiben, die wie im Falle des 32-Jährigen oft Analphabeten waren. Was Öztürk letztlich beim Jobcenter einreichte, blieb für die Unterzeichner also offenbar weitgehend unklar. Der Zeuge will erstmals im Frühjahr 2015 Leistungen vom Jobcenter Bremerhaven erhalten haben.
Ein zweiter Bulgare, den der Ausschuss vernahm, schilderte ganz ähnliche Erlebnisse. Aus wirtschaftlich desolater Lage in seinem Heimatland habe er sich 2012 nach Deutschland aufgemacht. Bremerhaven habe er angesteuert, weil dort sein Schwiegervater bereits als Hilfskraft tätig war. Nach seiner Ankunft in der Seestadt sei er von Landsleuten darauf aufmerksam gemacht worden, „dass es in der Hafenstraße jemanden gibt“.
Nämlich Selim Öztürk mit seinem Verein ABI. Der nehme für die Vermittlung einer Gewerbeanmeldung 150 Euro, für Behördengänge 25 und für einfache Vorsprache in seinem Büro 10 Euro. Natürlich jeweils in bar. Der Zeuge, gab an, für Löhne zwischen 5 und 7 Euro in Betrieben wie der Lloyd-Werft tätig gewesen zu sein. Auf Nachfrage von Ausschussmitgliedern, ob ihm der in Deutschland geltende Mindestlohn bekannt sei, sagte der Bulgare: „Wir können doch nicht lesen.“
Ob ABI-Chef Selim Öztürk in diesem Ausbeutungsgeflecht eine Rolle spielte und wenn ja: welche, wurde aus den Vernehmungen nicht deutlich. An ein Detail konnte sich der Zeuge allerdings noch erinnern. Öztürk habe versucht, ihm für seine Kinder Nachhilfeunterricht durch ABI aufzudrängen. „Ich wollte das nicht, weil die Lehrer meiner Kinder sagten, dass die Deutsch-Förderung in der Schule ausreicht“, so der Zeuge. Wie berichtet, geht die Staatsanwaltschaft dem Verdacht nach, dass ABI bei den Bremerhavener Behörden in zahlreichen Fällen Nachhilfe zwar abgerechnet, aber nicht erteilt hat.
Wie ein roter Faden zog sich der Eindruck durch die Vernehmungen, dass die von Selim Öztürk gelenkten Vereine auch deshalb so viel Zuspruch in der bulgarischen Community erfuhren, weil sich die Bremerhavener Behörden nicht sonderlich intensiv um die Zuwanderer kümmerten. Wie sonst wäre es denkbar, dass sich eine Person wie der heute 32-jährige Fischer sieben Jahre lang komplett unter dem Radar der deutschen Bürokratie bewegte? Der Mann war nicht gemeldet, bei keiner Krankenkasse registriert und auch sonst ohne jegliche Absicherung. „Hat sich mal irgendein Amt für Sie interessiert?“, fragte Thomas vom Bruch (CDU) ganz direkt. Nein, hatte es nicht.