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Hilfsbedürftige Helfer Corona-Krise trifft die Tafeln in Bremen und Niedersachsen hart

Genau die Hälfte aller Tafeln in Niedersachsen ist zurzeit geschlossen. Wie sehr Corona die Helfer trifft, erklärt Manfred Jabs, verantwortlich für die Tafel Bremerhaven und Vorsitzender des Landesverbandes.
15.04.2020, 07:11 Uhr
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Corona-Krise trifft die Tafeln in Bremen und Niedersachsen hart
Von Marc Hagedorn

Manchmal ist Manfred Jabs in diesen Tagen gerührt. Wenn er zum Beispiel daran denkt, wie der Schiffsausrüster Odin kürzlich seine Lager für die Tafel Bremerhaven geöffnet hat. Weil die Kreuzfahrtsaison wegen Corona zum Erliegen gekommen ist, sitzt das Schiffdorfer Unternehmen auf vielen Lebensmitteln. „Wir durften uns mehrere Laster voll davon abholen“, sagt Jabs, verantwortlich für die Tafel Bremerhaven. Konserven, Wurst, Käse mit Mindesthaltbarkeitsdatum, „wir sind einfach mit dem 2,5-Tonner-Kühlwagen hin, durften einpacken, sind wieder weg und wieder hin.“ Das Lager der Tafel Bremerhaven ist gut gefüllt seitdem.

So sieht es aber längst nicht bei allen Tafeln im Land aus. Corona macht ihnen das Leben schwer. Von den 104 Tafeln in Niedersachsen hat genau die Hälfte zurzeit geschlossen. Die beiden Tafeln im Land Bremen – für Senioren in der Vahr und Bedürftige in Hemelingen sowie in Bremerhaven – sind nach wie vor geöffnet. „Ein Glücksfall“, weiß Jabs, der auch Landesvorsitzender für die Tafeln Bremen/Niedersachsen ist. Jedes kleine Erfolgserlebnis tut gut in einer Zeit, die sehr ernst ist. Der Dachverband Tafel Deutschland e. V. geht in seinem aktuellen Lagebericht aus der vergangenen Woche davon aus, dass Corona für viele Tafeln existenzbedrohend ist.

Im Bremer Umland haben im Moment unter anderem die Tafeln in Lilienthal, Tarmstedt, Osterholz-Scharmbeck, Achim, Bassum und Twistringen ihre Verkaufsstellen geschlossen. Erst vor zehn Tagen musste die Tafel Syke mit ihren Außenstellen in Weyhe und Bruchhausen-Vilsen den Dienst vorläufig einstellen. Der Grund ist immer derselbe: der Schutz der Mitarbeiter und ehrenamtlichen Helfer.

Bundesweit sind über 65 Prozent aller Helfer älter als 65 und damit Teil der Risikogruppe. „Bei uns in Bremerhaven sind es sogar 90 Prozent“, sagt Jabs, der selbst 66 und vorerkrankt ist. Er ist ganz vorsichtig in diesen Tagen. So viel wie möglich erledigt er per Telefon oder E-Mail, aber ein-, zweimal die Woche schaut er doch bei der Bremerhavener Tafel vorbei.

Was er sieht, macht ihm Hoffnung. Viele Schüler und Studenten arbeiten aktuell in der Ausgabestelle, transportieren und verpacken Lebensmittel, ersetzen die älteren Helfer, die zurzeit nicht zum Einsatz kommen dürfen. Die Tafeln, die sonst noch offen sind, etwa in Delmenhorst und Verden, halten sich streng an Hygiene- und Abstandsvorgaben. In Bremerhaven sind Abstandslinien auf den Boden geklebt, nie dürfen mehr als drei bis fünf Personen gleichzeitig im Raum sein. Die Mitarbeiter sind durch Plexiglasscheiben geschützt, wenn das baulich möglich ist. Die Bremerhavener haben überdies ihre Ausgabezeiten erweitert, von zehn bis 16 Uhr an fünf Tagen die Woche, um das Kundenaufkommen zu entzerren.

Der Bedarf ist groß, und er wird mit der Zeit wachsen, ist sich Jabs sicher. „Der große Ansturm wird noch kommen“, sagt er, „die Kurzarbeit wird Not mit sich bringen.“ Allein im März lagen der Bundesagentur für Arbeit 470.000 Anträge auf Kurzarbeit vor, weitere 200.000 sind mittlerweile dazugekommen. Wie die Tafeln das schaffen sollen? Im Moment weiß das niemand so genau. Fakt ist, dass es ohne Hilfe von außen nicht geht. Und die gibt es im Moment.

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Aldi-Nord zum Beispiel hat dem Landesverband Bremen/Niedersachsen Geschenkgutscheine über 10 000 Euro zur Verfügung gestellt, 20 Euro ist eine Karte wert. Die Tafel in Bremerhaven erhält überdies Unterstützung von Frosta. Auch viele Gastrobetriebe, die im Moment nicht öffnen dürfen, räumen ihre Lager und stellen die Waren den Tafeln zur Verfügung.

Auch die Tafeln selbst, die zurzeit stationär keine Lebensmittel ausgeben können, tun etwas und suchen nach Alternativen. Nur ein paar Beispiele: In Osterholz-Scharmbeck fahren immer freitags fünf Transporter gepackte Kisten zu den Kunden. So macht es inzwischen auch die Tafel Achim. Sie beliefert 25 bedürftige Familien, erreicht auf diesem Weg 110 Personen, immerhin 30 Prozent der Stammkundschaft. In Bassum können Tafelkunden direkt beim örtlichen Inkoop-Supermarkt Ware abholen, ohne einen Bezugsschein vorlegen zu müssen. Die Tafel Syke schließlich verteilt Lebensmittelgutscheine im Wert von 20 und zehn Euro, finanziert von der Kreissparkasse. „Wo du hinhörst“, sagt Jabs, „überall ist die Unterstützung toll.“

Trotzdem fehlt den Menschen in diesen Tagen etwas. Tafeln sind nicht nur die Orte, an denen man sich mit Lebensmitteln versorgt, sondern sie sind mehr: Treffpunkt. Begegnungsstätte. Tafelbesuche strukturieren den Tag. „Das fällt vielerorts jetzt leider weg“, sagt Jabs, „vielleicht gibt’s jetzt mal den kleinen Schnack vor der Tür, aber das war’s auch schon.“ Viele Zusatzangebote, die fast jede Tafel macht, ruhen ebenfalls. In Bremerhaven ist das Café geschlossen, woanders sind es die angeschlossene Kleiderkammer, die Hausaufgabenhilfe, die Sozialberatung oder die Kinderbetreuung.

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Manfred Jabs stellt sich auf einen langen Kampf für die Tafeln gegen die Folgen von Corona ein. Vieles wird erst die Zukunft zeigen. Wie viele der älteren Helfer machen weiter? Finden die Tafeln genügend Nachwuchs? Was ist mit den Spenden? Wie sollen die Tafeln ihre fixen Kosten zahlen, wenn kein Geld hereinkommt? In Lilienthal zum Beispiel reichen die Rücklagen nur noch für eine Monatsmiete.

Jabs ist regelmäßig als Referent für den Bundesfreiwilligendienst im Einsatz. Er macht dann eine Art staatsbürgerliche Grundschulung mit den angehenden Bufdis. Er erzählt bei dieser Gelegenheit gern, wie viele Lebensmittel die Tafeln sammeln und an wen sie das Essen verteilen. „Dabei sage ich auch, was unser eigentliches Ziel ist: nämlich dass wir überflüssig werden.“ Davon jedoch, das weiß Jabs auch, sind die Tafeln im Moment weiter entfernt als je zuvor.

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Die Tafeln in Deutschland

Bundesweit gibt es 950 Tafeln mit 2000 Ausgabestellen. 60.000 Ehrenamtliche engagieren sich hier, sie versorgen 1,65 Millionen Kunden mit Lebensmitteln, die ihnen Supermärkte, Bäckereien oder Fleischereien zur Verfügung stellen. Zurzeit sind 426 Tafeln in Deutschland wegen Corona geschlossen, die meisten in Hessen (80 Prozent), Schleswig-Holstein und im Saarland. In der letzten März-Woche haben aber immerhin 30 Tafeln ihren Dienst wieder aufgenommen, etwa in Braunschweig und Wolfenbüttel.

Wer den Tafeln helfen möchte, kann das auf vielerlei Weise tun: als ehrenamtlicher Helfer, der abholt, sortiert, verpackt und verkauft, oder als Spender. Die Tafeln haben einige Fixkosten für Mieten, Benzin, Kfz-Versicherungen, Energie, Porto, Wartungsmaßnahmen oder Verpackungsmaterial. Auch muss der Fuhrpark unterhalten und erneuert werden. Viele Tafeln würden sich beispielsweise gern Lastenräder anschaffen. Dafür fehlt aber momentan das Geld.

Die Tafeln haben Arbeits- und Sozialminister Hubertus Heil (SPD) angeschrieben und darum gebeten, bei all den Hilfsprogrammen, die aktuell aufgelegt werden, die Tafeln nicht zu vergessen. Gut die Hälfte der Tafeln sind eingetragene Vereine, die andere Hälfte ist Wohlfahrtsverbänden angeschlossen.

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