Es ist ein Notprogramm, das Sozialsenatorin Anja Stahmann (Grüne) vorbereitet. Eines, das bitter notwendig ist, um den Flüchtlingen, die in den nächsten Wochen und Monaten nach Bremen kommen werden, ein Dach über dem Kopf bieten zu können.
Ein Dach, einen Platz zum Schlafen und zum Ankommen nach teilweise monate- oder sogar jahrelanger Flucht. Damit sie nicht im wahrsten Sinn des Wortes auf der Straße stehen. Dass es Turnhallen sind, noch im Betrieb, von Schulen und Vereinen genutzt, zeigt, wie groß die Not an Plätzen für die Flüchtlinge ist. Schnell soll eine Liste mit infrage kommenden Hallen zusammengestellt werden, die innerhalb kürzester Zeit umfunktioniert werden könnten. Es geht um Hunderte Notplätze.
Der Flüchtlingsstrom reißt nicht ab. Ganz im Gegenteil. Viele Bundesländer sind kurz davor, die weiße Fahne zu hissen, weil sie kaum noch Möglichkeiten für die Unterbringung haben. Auch in Bremen spitzt sich die Lage zu. „Nach aktuellen Prognosen erwarten wir 2015 über 3000 Flüchtlinge. Aber es mehren sich schon Anzeichen, dass es auch deutlich mehr werden können“, sagte Stahmann. 2014 kamen rund 2200 Menschen nach Bremen. Allein für diesen Monat rechnet die Behörde mit 400 Flüchtlingen, das sind fünf Mal so viele wie im Februar vergangenen Jahres. 1400 zusätzliche Plätze – mindestens – müssen deshalb in diesem Jahr geschaffen werden.
Doch wo? Und wie bloß so schnell? Und warum müssen es jetzt Turnhallen sein? Birgt das nicht die Gefahr, dass die bislang große Unterstützung für die Flüchtlinge und die Stimmung in der Bremer Bevölkerung kippen könnte? Gibt es nicht doch noch andere Möglichkeiten? Hat die Behörde Fehler gemacht, sich nicht frühzeitig auf den Flüchtlingsstrom vorbereitet, agiert jetzt kopf- und planlos mit überstürzten Notmaßnahmen?

Die Zahl der Flüchtlinge in Bremen ist rasant angestiegen.
Fehler hat es gegeben. Zum Beispiel in der Kommunikation. Etwa, als schon einmal eine Turnhalle in Horn im Gespräch war. Landessportbund und Beirat hatten sich quer gestellt, weil sie nicht rechtzeitig über die Pläne informiert wurden. Fühlten sich übergangen. Ein Fehler. In der Tat. Oder in Rekum in Bremen-Nord, als es um eine Einrichtung für gewaltbereite junge Flüchtlinge ging. Der Beirat stand dahinter, doch Anwohner wollten stärker einbezogen werden. Bürgerbeteiligung ist wichtig, damit die Stimmung eben nicht kippt. Das ist bei der Behörde angekommen.
Aber Bürgerbeteiligung kostet auch Zeit. Bis es etwa einen Beiratsbeschluss zu einem neuen Heim gibt, kann es Wochen oder Monate dauern, nur einmal im Monat tagt der Beirat. Zeit, die die Behörde kaum noch hat. Sondersitzungen der Beiräte, um diese Zeit abzukürzen, würden helfen.
Fakt ist, die Flüchtlinge kommen. Und es werden mehr sein. Was unter dem Druck nicht passieren darf: Dass wie in den 90er-Jahren Massenunterkünfte mit Platz für Hunderte Flüchtlinge aus dem Boden gestampft werden. Sie sind ein Instrument der Abschreckung, nicht der Integration. Andere Bundesländer wie Nordrhein-Westfalen werden dafür zu Recht von der Menschenrechtsorganisation Pro Asyl kritisiert.
Auch darf nicht über bauliche oder Hygiene-Mängel in Objekten von privaten Betreibern hinweggesehen werden – so wie in zwei Hotels in Bremen, wo unter anderem minderjährige Flüchtlinge untergebracht wurden. Die Not ist groß, aber keine Entschuldigung für solche Versäumnisse.
Vorrangiges Ziel muss es trotz des großen Drucks bleiben, Flüchtlinge so schnell wie möglich aus Übergangswohnheimen und Notunterkünften in Wohnungen zu vermitteln. Um Platz in den Einrichtungen für Neuankömmlinge zu schaffen, um Notmaßnahmen wie Turnhallen so weit wie möglich zu vermeiden – und vor allem auch, um so schnell wie möglich die Integration der Flüchtlinge zu erreichen. Ein Instrument hierfür ist die Unterbringung in Wohnungen. Dabei ist Bremen bislang gut, besser als die meisten anderen Bundesländer, wie Pro Asyl betont. Über 800 Flüchtlinge sind 2014 in Wohnungen eingezogen. Doch auch hier werden die Ressourcen knapper. Deshalb müssen neue Einrichtungen geschaffen oder als Notmaßnahme Turnhallen kurzerhand umfunktioniert werden.
Um das Unterbringungssystem zu entlasten, könnte der Blick möglicherweise nach Bremerhaven gerichtet werden. Die Seestadt nimmt 20 Prozent aller Flüchtlinge auf, die im kleinsten Bundesland ankommen. Diese Quote ist fix. Darüber hinaus könnte es aber doch noch eine Option geben: Laut einem bundesweiten Leerstandsindex, der von zwei Immobilienberatungsunternehmen herausgegeben wird, gab es 2013 in Bremerhaven rund 3000 freie Wohnungen, die unmittelbar vermietbar oder mittelfristig aktivierbar wären.
Eine entsprechende Anfrage aus der Bremer Sozialbehörde wegen einer zusätzlichen Aufnahme in Wohnungen an den Bremerhavener Magistrat hat es im September 2014 offenbar schon einmal gegeben (wir berichteten). Sozialstadtrat Klaus Rosche erteilte ihr aber eine Absage. Wegen der festgelegten Quote müsste ein solches Angebot aus Bremerhaven kommen. „Und wir wären mit dem Klammerbeutel gepudert, würden wir es nicht annehmen, wenn es käme. Weil wir hier in Bremen mit der Unterbringung an die Grenzen geraten“, sagt Stahmann-Sprecher Bernd Schneider auf Nachfrage des WESER-KURIER. Ein Angebot gibt es bislang nicht. Gründe dafür könnten sein, dass diese zusätzliche Aufnahme mit weiteren Kosten für Betreuung und andere Sozialausgaben verbunden wäre. Eine verständliche Befürchtung. Bremen müsste sich an den zusätzlichen Ausgaben beteiligen oder sie übernehmen. Keine Frage. Zumindest eine Debatte sollte diese Option wert sein.
Die Zuwanderung von Flüchtlingen darf nicht ausschließlich als Belastung des Unterbringungssystems gesehen werden. Sie ist auch eine Chance. Für die Gesellschaft, den Arbeitsmarkt, auch längerfristig für den Sozialstaat. Wenn alles unternommen wird, um eine schnelle Integration zu ermöglichen. Eine Chance vor allem auch für Städte und Kommunen, die von Bevölkerungsschwund betroffen sind.
Einer, der mit genau diesem aus der aktuellen Krisen-Debatte herausragenden Ansatz bundesweit für Schlagzeilen gesorgt hat, ist der CDU-Bürgermeister von Goslar. Oliver Junk rief im November öffentlich dazu auf, mehr Flüchtlinge in seine Stadt zu schicken. Der Landkreis Goslar zählt zu den wirtschaftsschwächsten Regionen im Westen der Republik, die Einwohnerzahlen gehen immer weiter zurück, ganze Häuserblocks stehen schon leer. Es sei unverständlich, dass in manchen Städten neue Gemeinschaftsunterkünfte gebaut werden müssten, während in Goslar Wohnungen leer stünden, so der CDU-Bürgermeister. Für Oliver Junk sind die Flüchtlinge eine Chance. Er sehe in ihnen nicht nur Menschen in Not, sondern junge Familien, Fachkräfte und künftige Bürger, die seine alternde Stadt ein Stück lebendiger machen können, sagte er in einem Interview mit der „Zeit“. Ein kluger Ansatz.
Hintergrund: Begriffe aus dem Flüchtlingsalltag
Interview mit Thomas Berthold vom Bundesfachverband Unbegleitete Minderjährige Flüchtlinge