Matze Lawin ist schon immer ein flippiger, aufgeweckter Typ gewesen. Er liebt es, die Welt zu bereisen und ist begeisterter Taucher. Wenn er in den vergangenen Jahren nicht durch Mittel- und Südamerika, Asien oder die Südsee trampte, war er in Bremen und umzu als DJ unterwegs. Er legte auf Hochzeiten, im Lagerhaus im Viertel oder im Falstaff in der Neustadt auf. Zur Begrüßung in seiner großen, lichtdurchfluteten Obergeschosswohnung im Buntentor empfängt der heute 62-Jährige gut gelaunt per Handschlag, serviert Kaffee und Kuchen. Es geht um sein neues Buch. Eine Autobiografie mit dem Titel "Das Leben ist zu kurz für lange Arme". Und wenn man ihn nicht vor sich hat, Matze Lawin aka DJ Matze, dann kann man für einen Moment schon mal den Grund für den Buchtitel vergessen. Denn Lawin ist einer von Tausenden contergangeschädigten Menschen in Deutschland. Seine beiden Arme sind stark verkürzt, die Hände nur wenig ausgebildet.
Das Beruhigungs- und Schlafmittel Contergan wurde Ende der 50er-Jahre gezielt an Schwangere vertrieben und löste kurz darauf einen der größten Arzneimittelskandale in Deutschland aus. Schon wenige Jahre nach dem Verkaufsstart stellte sich heraus, dass das Medikament schwere Fehlbildungen, das komplette Fehlen von Gliedmaßen oder Organen bei Neugeborenen sowie in einigen Fällen sogar Totgeburten zur Folge hatte.
Dass Matze Lawins Biografie erst ab seinem 20. Lebensjahr einsetzt, hat einen Grund, wie er schließlich am Küchentisch erzählt. Als einziges contergangeschädigtes Kind in seinem Umfeld musste er sich früh einiges anhören und merkte schnell: "Es gibt kein: Ich habe heute mal keine kurzen Arme." Bei blöden Sprüchen hielt er voll dagegen, auf jeden persönlichen Angriff hin schoss er doppelt zurück. Kurz darauf wandte er sich der "extremen linken Szene" zu, wie er heute erzählt. Doch dann gab es eine Wende in seinem Leben. Es war nicht der Umzug 1989 nach Bremen, sondern schon die Geburt seiner Tochter Lena einige Jahre zuvor. Matze Lawin ordnete sein Leben neu.
Als "Wendepunkt im Kreißsaal" beschreibt der Bremer diesen Moment rückblickend in seinem Buch. Erst einmal allerdings gar nicht unbedingt bezogen auf seine Einstellung zum Leben, auf seine Behinderung oder den Ausdruck "Glück", sondern ganz praktisch auf seinen beruflichen und persönlichen Lebensweg. Seine Diplomarbeit hat Lawin über den Themenbereich Sexualität und Behinderung geschrieben. Ein vorgezeichneter Weg samt Empfehlung der Professorin, unbedingt eine Laufbahn als Behindertenpädagoge weiter zu verfolgen. Doch sollte das seine Zukunft sein? Lawin erinnerte sich an den Moment zurück, als er bei einer Uniparty vor fast tausend Leuten aufgrund seines guten Musikgeschmacks zum ersten Mal die Rolle des DJs übernahm. Und er entschied: Das soll meine Zukunft sein.
Lawin heuerte im damaligen Café Kunst in der HfK als DJ an, machte sich mit seinem bunten Musikmix (gerne rockig, aber bloß kein Schlager) innerhalb kürzester Zeit einen Namen. Er spielte im Lagerhaus und trat schließlich sogar als Veranstalter der Klubnacht Academia und der Falstaffdisco in Erscheinung. Parallel bereiste er die Welt, stürzte sich gerne auch allein von einer Herausforderung in die nächste. Dabei lernte er, wie er heute berichtet, wunderschöne Frauen kennen, die von ihrem Pech in der Liebe erzählten. Er traf große Sportler, die unzufrieden mit ihrem Körper waren. Und er merkte: Jeder hat auf seine Art ein Päckchen zu tragen. Zudem wurde ihm bewusst, dass er aufgrund seiner Behinderung besondere Situationen auf Reisen erlebt, die nur er erlebt und niemand sonst.
Lawins Liebe zur Unterwasserwelt war anfangs eine rein theoretische Angelegenheit. Bis zu dem Punkt, wo er eine contergangeschädigte Frau traf, die weder Arme noch Beine hatte, ihm jedoch ohne Umschweife erklärte, jetzt tauchen gehen zu wollen. Ihre Freundin unterstützte sie, hielt sie unter Wasser fest. Und Lawin mit seinen zwei gesunden Beinen fing an, viele sicher geglaubte Annahmen infrage zu stellen. Heute braucht er zwar immer noch Hilfe beim Anlegen des Neopren-Anzugs, beim Aufsetzen der Taucherbrille und beim Druckausgleich. Dann ist er aber in seinem Element und zeigt Einsteigern seine geliebte Unterwasserwelt.
Autonomie bedeutet für Matze Lawin Glück
Glück ist für Matze Lawin heute Autonomie, Glück ist Liebe und Freundschaft, Glück sind seine Tochter Lena und seine Frau Ellen. Wenn er dieser Tage blöde Sprüche hört, ignoriert er sie meist und steht ihnen gleichgültig gegenüber. Ganz weg ist das "Zurückschießen" von damals nicht, dafür waren die Erfahrungen zu eindrücklich. Aber Lawin hat seinen Weg gefunden, sein Ding gemacht, Glück gefunden. So viel Glück, dass er manchmal unschöne Reaktionen von Behindertenverbänden und anderen Contergangeschädigten fürchtet.
Die Idee, ein Buch zu schreiben, kam nicht von ihm. Es waren seine Freunde, die ihn ermunterten, mehr aus seinen Reiseblogs zu machen. Worin Lawin heute einen Prozess der Selbstreflexion mit einigen Tränen und noch mehr Lachen sieht, sieht sein Verleger aus Berlin einen Ratgeber. Deswegen ist der Untertitel von Lawins Buch auch "Empowerment zur radikalen Selbstakzeptanz". Für Matze Lawin steckt allerdings fast mehr Kraft in einem Satz, den er sich bei jemand anderem für sein Buch geliehen hat: "Umwege erhöhen die Ortskenntnis".