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Ein Leben mit ALS Die Technik verlangt Tobias Laatz alles ab

Tobias Laatz aus Bremen-Nord ist unheilbar krank, er hat ALS. Ärzte gehen davon aus, dass er bald sterben wird. Der Einsatz von Technik hält ihm am Leben - und fordert ihm jeden Tag alles ab.
26.05.2018, 10:20 Uhr
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Die Technik verlangt Tobias Laatz alles ab
Von Christian Weth

Die Stimme, mit der Tobias Laatz‘ Sprachcomputer spricht, heißt Klaus. Sie ist vorinstalliert. Genauso wie Jonas. Auch Andreas gibt es. Tobias Laatz hat alle ausprobiert. Seine Frau findet, dass der Rechner bei Jonas zu kindlich und bei Andreas zu affektiert klingt. Darum also Klaus. Es ist eine sachliche Stimme. Doris Laatz hat sich so an sie gewöhnt, dass sie sich neulich erschrocken hat, als sie im Fernsehen einen Fremden sah und zugleich die ihr vertraute Stimmte hörte. Auch der Fremde im Fernsehen hatte einen Sprachcomputer. Auch er hatte die Krankheit, die ihr Mann hat.

Als Tobias Laatz den Rechner bekam, ignorierte er ihn. Der Computer – ein Tablet mit Stativ – stand ausgeschaltet im Wohnzimmer. Tobias Laatz saß neben ihm im Rollstuhl und tippte langsam mit den Fingern kurze Texte für seine Frau auf dem Handy. „I-c-h v-e-r-s-u-c-h-e, s-o l-a-n-g-e e-s-g-e-h-t, a-u-f H-i-l-f-s-m-i-t-t-e-l z-u-v-e-r-z-i-c-h-t-e-n.“ Tobias Laatz schreibt diesen Satz jetzt mit den Augen, weil er mit den Fingern nicht mehr tippen kann. Er hat die Kontrolle über seinen Körper verloren. Nur den Kopf kann er noch bewegen. Und die Augen. Der Computer ist jetzt immer dort, wo er ist.

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Doris Laatz hat ein Video, auf dem ihr Mann am Weserufer steht und wie ein Nachrichtensprecher redet, der es eilig hat. Seine Sätze sind Stakkato-Sätze. So schnell kann Tobias Laatz nicht mit dem Sprachcomputer schreiben, wie er damals gesprochen hat. Es ist jetzt so wie zu der Zeit, als er noch Buchstabe für Buchstabe mit dem Handy tippte. Nur dass nun seine Augen machen, was früher seine Finger machten. Sie steuern einen roten Punkt auf einer Bildschirm-Tastatur. Verharrt der Punkt länger auf einem Schriftzeichen, wird es aktiviert – und beginnt die Suche nach dem nächsten.

Die Geduld

Der rote Punkt wandert zum G, vom G zum e, vom e zum d, zum u, zum l und schließlich zum d: „G-e-d-u-l-d.“ Tobias Laatz schreibt, dass viele sie nicht haben. Dass sie die Stille, während er schreibt, nicht aushalten können. Dass sie einen Satz, den er zu tippen begonnen hat, selbst laut zu Ende formulieren – und meistens falsch liegen. Tobias Laatz kann niemandem mal eben ins Wort fallen oder widersprechen. Die Sätze, die er schreibt und der Computer für ihn sagt, kommen in einer Unterhaltung mit mehreren oftmals zu spät. Die anderen haben schon ein neues Thema, während er noch beim alten ist.

Tobias Laatz mag es nicht, wenn die Leute nicht warten können, bis er seine Sätze zu Ende geschrieben hat. Aber noch schrecklicher fände er es, wenn er sich gar nicht ausdrücken könnte. Der Computer ist für ihn: „l-e-b-e-n-s-w-i-c-h-t-i-g“. Noch kann er für ein Nein den Kopf von rechts nach links bewegen und für ein Ja einmal die Augen schließen und wieder öffnen. Doch jemandem mitteilen, dass er Schmerzen hat oder keine Luft bekommt, kann er nur mit dem Rechner. Irgendwann, das weiß Tobias Laatz, wird er gar nichts mehr bewegen können. Auch die Augen nicht.

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Meistens schreibt er so viel, als müsste er alles auf einmal mitteilen, was es noch mitzuteilen gibt. In der Regel enden seine Sätze mit einem Komma und beginnen die nächsten mit „u-n-d“. Vor einiger Zeit hat Tobias Laatz angefangen, über sich zu schreiben, seine Familie, seine Krankheit. Er hat ALS. Die Buchstaben stehen für Amyotrophe Lateralsklerose, eine Nervenkrankheit, die alle Muskeln irreparabel schädigt. Tobias Laatz, Nordbremer, drei Kinder, ist 35. Ärzte gehen davon aus, dass er nicht viel älter wird. Seine Form der ALS ist aggressiv. Vor anderthalb Jahren konnte er noch sprechen und gehen, wenn ihn jemand stützte.

Jetzt liegt er. Jetzt werden sein Herz und seine Lunge von Geräten überwacht. Jetzt hat er eine Magensonde und eine Kanüle im Hals. Jetzt bekommt er permanent Hilfe beim Atmen. Tobias Laatz schreibt, dass es nicht einfach ist zu beschreiben, wie es sich anfühlt, von einer Maschine beatmet zu werden. Er hat nie mit einer Sauerstoffflasche getaucht, stellt sich aber vor, dass es so ähnlich ist. Nur dass der Beatmungsschlauch bei ihm nicht zum Mund führt, sondern direkt zur Luftröhre. Wird der Schlauch von der Halskanüle getrennt, zischt es leise.

Tobias Laatz wird kontrolliert beatmet: Das Gerät gibt den Takt vor, in dem er ein- und ausatmet – und den Druck beziehungsweise Unterdruck, mit dem sich seine Lunge mit neuer Luft füllt und verbrauchte Luft wieder abgibt. Ohne die Technik würde er immer Kohlenstoffdioxid im Körper zurückbehalten und sich auf Dauer selbst vergiften. Die Einstellung des Geräts ist wie ein Medikament, das vom Arzt verordnet wird. Er legt die Werte fest, niemand sonst darf sie verändern. Um sicher zu gehen, dass sie so bleiben, werden alle Schalter des Geräts mit einer Tastenkombination gesperrt.

Das Üben

Dass er Hilfe beim Atmen hat, vergisst Tobias Laatz manchmal. Bewusst wird ihm die Maschine erst, wenn er allein zu atmen versucht. „D-a-s L-u-f-t-h-o-l-e-n g-e-h-t d-a-n-n s-c-h-w-e-r-e-r.“ Er probiert es trotzdem immer wieder. Mit dem Beatmungsgerät ist es wie mit dem Sprachcomputer. Tobias Laatz hat den Rechner ignoriert, weil er so lange wie möglich seine Finger trainieren wollte. Wie andere Gewichte stemmen, um in Form zu bleiben, tippte er Texte mit dem Handy. Jetzt will er so lange wie möglich das Atmen üben. Er hat Angst, dass seine Lunge schneller schwächer wird, wenn er sie nicht anstrengt.

Das Husten und Räuspern kann er nicht mehr üben. Beides ist längst unmöglich geworden. Dabei ist beides wichtig. Husten und Räuspern helfen, die Bronchien frei zu halten. Bei Tobias Laatz würden sie ohne den Einsatz von Apparaten verstopfen. Neben seinem Bett steht ein Gerät, das so ähnlich funktioniert wie die Beatmungstechnik. Nur dass diese Maschine wesentlich mehr Luft mit mehr Druck in seine Lungen pumpt und anschließend wieder einsaugt, um damit zu simulieren, was ein Husten macht: Speichel in den Bronchien lösen, bevor er sich festsetzt.

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Dreimal pumpt und saugt der Hustenassistent. Gleich danach brummt ein anderes Gerät. Auch das saugt. Es holt Flüssigkeit aus Tobias Laatz‘ Luft- und Speiseröhre, manchmal auch direkt aus seinen Bronchien. Seine Augen sind dann weit aufgerissen, Adern treten auf seiner Stirn hervor. Er schreibt, dass es mal unangenehm, mal schmerzhaft ist: „E-s s-t-i-c-h-t i-m B-r-u-s-t-k-o-r-b.“ Mehrmals am Tag wird der Hustenassistent eingesetzt und anschließend der Speichel abgesaugt. Als er erkältet war, mussten beide Geräte beinahe im Stundentakt eingeschaltet werden.

Doris Laatz weiß, wie sehr die Technik ihrem Mann hilft und dass die Geräte für ihn Leben bedeuten. Sie weiß aber auch, wie viel die Apparate ihm in manchen Momenten abverlangen. „Tobi ist so tapfer.“ Zum Vatertag hat sie ihm deshalb mit den Kindern einen goldfarbenen Pokal geschenkt. Er hat eine Gravur: „Bester Papa der Welt.“

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