Er hat sich das schon oft gefragt: Warum gerade er? Antworten sucht Tobias Laatz mal in Berichten von Pharmakonzernen, mal in Befunden von Ärzten. Doch er findet keine. Genauso wenig wie das Team von Medizinern, das ihn behandelt. Es gibt Hypothesen, mehr nicht. Spezialisten entwickeln sie. Spezialisten wie Christopher Secker. Auch er fragt nach dem Warum. Secker erforscht die Krankheit fast so lange, wie Tobias Laatz sie hat – knapp zwei Jahre.
Der Raum, in dem Tobias Laatz seit Kurzem liegt, ist abgeschottet. Pflegerinnen bestimmen, wer zu ihm darf und wer nicht. Alle tragen Mundschutz. Tobias Laatz, Nordbremer, drei Kinder, ist auf der Intensivstation. Es ist das zweite Mal in diesem Jahr, dass sein Zustand kritisch ist. Am Vortag schlug sein Herz fast doppelt so schnell wie bei einem gesunden Menschen – 153 Mal pro Minute. Die Ärzte sagen, dass er Fieber hat und schlecht Luft bekommt. Und dass die Ursache für beides eine erneute Lungenentzündung ist. Seine Augen, mit denen er schreibt, was der Sprachcomputer für ihn sagt, sind weit geöffnet: „A-n-g-s-t.“
Christopher Secker weiß nicht, wie es gerade um Tobias Laatz steht. Beide sind sich nie begegnet. Secker, 30, Bart, Lockenkopf, ist kein Bremer, sondern ein Berliner Arzt. Er ist auch kein Mediziner, der Patienten behandelt, sondern der rein experimentell arbeitet – mit Blut- und Zellproben von Patienten. Und mit einem Roboter, der diese Proben wieder und wieder für neue Versuchsreihen vorbereitet. Seckers Arbeitsplatz ist das Labor. Er leitet an der Charité ein Forschungsprojekt, das Aufschluss darüber geben soll, warum manche Menschen die Krankheit haben, die Tobias Laatz hat, und was sie auslöst.
Tobias Laatz hofft auf Wissenschaftler wie Secker. Auch seine Frau macht das. Mindestens einmal in der Woche sitzt Doris Laatz zu Hause vor dem Computer und gibt verschiedene Begriffe in die Online-Suche ein. Es sind immer dieselben: Forschung, Therapie, Heilung, ALS – das Kürzel steht für Amyotrophe Lateralsklerose. Wer sie hat, verliert die Kontrolle über seinen Körper. Alle Muskeln versagen nach und nach. Erst in den Beinen und Armen, dann in den Händen, den Fingern, Füßen, im Gesicht, in der Lunge. Nur das Herz schlägt immer weiter. Es ist der einzige Muskel, den die Krankheit nicht schädigt.
Secker sagt, dass er dafür keine Erklärung hat. Er sitzt in einem abgedunkelten Raum, in dem ein Beamer das Bild von Neuronen an die Wand wirft. ALS ist keine Muskel-, sondern eine Nervenkrankheit. Und SOD-1, TDP-43, FUS und TBK-1 sind an ihr beteiligt. Die Buchstaben und Zahlen stehen für Proteine, die sich an Gehirnzellen anheften, die für die Motorik zuständig sind. „Im Grunde“, meint der Mediziner, „ein ganz normaler Vorgang, weil Zellen Proteine brauchen.“ Doch anders als bei gesunden Menschen werden sie bei Patienten mit ALS nicht verwertet. Sie bleiben. Secker spricht von einer schädlichen Ablagerung.
Die Tests
Dass seine Nervenzellen nicht machen, was sie sollen, hat Tobias Laatz von seinen Ärzten erfahren und in Vorträgen anderer Ärzte über andere Patienten gehört. Manchmal liest er, was seine Frau vor ihm las. Doris Laatz sucht im Internet nach neuen Erkenntnissen der Forschung. Vor allem nach Möglichkeiten der Therapie. Sie sagt, dass ihre Hoffnung noch immer groß und die ihres Mannes kleiner geworden ist. Er freut sich, wenn sie sich freut – über japanische Mediziner, die einen Erfolg vermelden, über amerikanische Neurobiologen, die Patienten testen. Sie will, dass ihm geholfen wird, jetzt: „Wir sind in einem Wettlauf.“
Drei bis fünf Jahre – das ist die Zeit, die einem Betroffenen durchschnittlich nach der Diagnose ALS bleibt. Secker sagt es wissenschaftlich. Er sagt es sachlich. Dass manche Patienten länger leben als andere, erklärt der Mediziner damit, dass bei einigen der Abbau der Proteine, die sich an den Nervenzellen im Gehirn festsetzen, nicht mehr gut, aber immer noch besser funktioniert als bei anderen. Er geht davon aus, dass Stephen Hawking deshalb Jahrzehnte mit der Krankheit leben konnte, während andere Patienten in wesentlich kürzerer Zeit sterben. Der britische Astrophysiker und prominenteste ALS-Betroffene wurde 76.
Tobias Laatz ist 35. Ärzte gehen davon aus, dass er nicht viel älter wird. Er kann, ein Jahr und neun Monate nach der Diagnose, fast nichts mehr bewegen – außer die Augen und, wenn er sich anstrengt, langsam den Kopf. Doris Laatz sagt, dass sie sich ein Leben ohne ihn nicht vorstellen kann. Sie hofft auf Heilung. Oder zumindest darauf, dass Mediziner ein Medikament entwickeln, das den Verlauf der Erkrankung aufhält. Oder doch wenigstens verlangsamt. Tobias Laatz hat eine andere Hoffnung:
„W-e-n-n m-i-r n-i-c-h-t m-e-h-r g-e-h-o-l-f-e-n w-e-r-d-e-n k-a-n-n, d-a-n-n v-i-e-l-l-e-i-c-h-t a-n-d-e-r-e-n.“
Christopher Secker würde gerne sagen, dass es bald Hilfe gibt. Kann es aber nicht. „Wir wissen einfach noch nicht genug.“ Seckers Forschung ist Grundlagenforschung. Er und sein Team sollen klären, ob die Proteine, die sich an den Zellen anheften und vom Körper nicht verarbeitet werden, tatsächlich der Auslöser für ALS sind. Wenn ja, könnten Präparate entwickelt werden, die speziell auf diese Proteine einwirken. Und sie sollen die alles entscheidende Frage beantworten: Warum erkranken Menschen wie Tobias Laatz? Liegt es an ihren Genen, an Stress, an zu wenig oder zu viel Sport, an einer Verletzung?
Tobias Laatz hat jahrelang Fußball gespielt: „I-n-n-e-n-v-e-r-t-e-i-d-i-g-e-r.“ Er stand für den Rönnebecker TV auf dem Platz, später für den TSV Farge-Rekum. Er schreibt, dass der Sport für ihn immer wichtig war, weil viele geglaubt hatten, dass er nie Sport treiben könnte. Mit viereinhalb Jahren kam er zum ersten Mal ins Krankenhaus: Schlaganfall. Er war halbseitig gelähmt und hat sich ins Leben zurückgekämpft. Detlev Dewers, sein Vater, beschreibt es so. Er meint, dass sein Sohn vielleicht deshalb ALS bekommen hat. Dass seine Nervenzellen damals eventuell Schaden genommen haben.
Die Merkmale
Vielleicht, eventuell – die Charité baut darauf, dass Seckers Forschung, wenn nicht hundertprozentige, so doch mehr Gewissheit bringt. Mehr Gewissheit durch Vergleiche. Der Mediziner untersucht die Blut- und Gewebeproben der Patienten auf Gemeinsamkeiten. Er will Merkmale finden, die sich wiederholen, um ein Muster anlegen zu können. Secker spricht von messbaren Parametern, die prognostische und diagnostische Aussagekraft haben. Er arbeitet in mehreren Laboren, die auf mehreren Etagen in mehreren Gebäuden verteilt sind. Und in allen reihen sich gläserne Teströhrchen. In manchen Hunderte.
Auch Tobias Laatz will, dass sein Blut und Gewebe von Wissenschaftlern untersucht wird. Seine Frau sagt, dass sie sich im Internet erkundigt hat, was sie machen müssen, damit Proben von ihm genommen werden. Doris Laatz steht am Bett ihres Mannes und streicht ihm über das Haar. Sein Herz schlägt jetzt langsamer als am Vortag – 98 Mal pro Minute. Die Ärzte sind zuversichtlich, dass er die Lungenentzündung überstehen wird. Wie lange er auf der Intensivstation bleiben muss, können sie nicht sagen. Tobias Laatz hat die Augen geschlossen. Sein Brustkorb hebt und senkt sich im Rhythmus der Maschine, die ihn beatmet.
Der Roboter im Labor hat einen ähnlich gleichmäßigen Takt. Das Gerät macht, was die Forscher sonst händisch machen: Proben präparieren. Der Apparat kann das schneller als sie. Christopher Secker ist froh, dass es die Maschine gibt. Drei Jahre hat er noch Zeit, dann läuft das Forschungsprojekt aus. Der Roboter ist Tag und Nacht an.