Bis zu 1500 aus dem Beruf ausgestiegene Arbeitnehmer oder bisher in Teilzeit beschäftigte Pflegekräfte könnten in Bremen Vollzeit in der Pflege arbeiten, wenn sich die Arbeitsbedingungen und die Bezahlung verbessern. Das ergibt eine Hochrechnung der Arbeitnehmerkammer, die dafür zusammen mit der Universität Bremen mehr als 1000 Pflegerinnen und Pfleger aus Kliniken, der stationären Pflege sowie bei ambulanten Pflegediensten befragt hat. Die wichtigsten Faktoren, um diese Pflegekräfte zu gewinnen, sind demnach eine bessere Wertschätzung der Arbeit, die sich vor allem in der Bezahlung ausdrückt, sowie mehr Zeit für eine qualitativ hochwertige Pflege. Die Realität sieht laut Studie anders aus: Wachsende Arbeitsverdichtung, längere Arbeitszeiten und mehr Verantwortung für den einzelnen Beschäftigten prägten den Alltag, nicht zuletzt verursacht durch zu dünne Personaldecken in Kliniken und Pflegeheimen.
„Es ist ein bisschen vertrackt: Man braucht demnach mehr Pflegekräfte, um eine Qualität der Arbeit zu ermöglichen, die für Pflegekräfte so attraktiv ist, dass sie im Beruf bleiben und wiedereinsteigen“, kommentiert Jennie Auffenberg, Referentin für Gesundheits- und Pflegepolitik in der Arbeitnehmerkammer, das Ergebnis der Studie, in der überwiegend Pflegekräfte aus Bremen und Niedersachsen befragt wurden.
Insgesamt zeigt sie sich aber überrascht über ein relativ hohes Potenzial möglicher Vollzeit-Pflegekräfte aus den Reihen der Berufsrückkehrer und Teilzeitbeschäftigten. „Nur zwölf Prozent der Aussteiger und 28 Prozent der Arbeitnehmerinnen in Teilzeit haben eine Rückkehr oder Stundenaufstockungen komplett ausgeschlossen“, sagt Auffenberg. Die besagten 1500 möglichen Arbeitskräfte für Bremen seien die optimistische Schätzung, wenn wirklich jede Person ihre Stundenzahl erhöht oder in den Beruf zurückkehrt, den sie sich vorstellen kann. Reduziere man die Hochrechnung auf diejenigen, für die so eine Perspektive am wahrscheinlichsten ist, ergäben sich theoretisch aber immer noch über 800 mögliche Vollzeitkräfte. Für ganz Deutschland ergibt die Hochrechnung für alle Teilzeit-Pflegekräfte und Berufsrückkehrer ein Potenzial von 90.000 bis zu 170.000 Vollzeitkräften.
„Der Fachkräftemangel in der Pflege scheint vor allem ein Mangel an Pflegefachkräften zu sein, die bereit sind, unter den derzeitigen Bedingungen in ihrem Beruf zu arbeiten“, kommentiert Ingo Schierenbeck, Hauptgeschäftsführer der Arbeitnehmerkammer. Die Studie der Arbeitnehmerkammer verweist in diesem Zusammenhang auch auf die besonders hohen Krankenstände bei den Pflegekräften. Sie seien außerdem länger arbeitsunfähig als Beschäftigte aus anderen Bereichen. Würde das Niveau an Arbeitsunfähigkeit und Frühverrentungen in der Pflege auf das Normalmaß in anderen Berufen reduziert, entspräche allein das einem Volumen von 26.000 Pflegekräften, die weiterhin für die Pflege zur Verfügung stünden. Aus all dem leitet die Arbeitnehmerkammer Handlungsempfehlungen ab, wie die Arbeitsbedingungen in der Pflege verbessert werden sollten. Neben einer besseren Bezahlung ist das vor allem ein Personalschlüssel in Kliniken und Pflegeeinrichtungen, der sich vornehmlich am fachlichen Bedarf orientiert.
Denn die in der Studie befragten Pflegekräfte sehen gerade in der kaum vorhandenen Zeit für eine angemessene Pflege einen Grund, ihren Beruf nicht mehr oder nur noch reduziert auszuüben. Eine höhere Personalbemessung findet darum viel Zustimmung. Gemeinsame Berechnungen der Gewerkschaft Verdi, des Deutschem Pflegerats und der Deutschen Krankenhausgesellschaft taxieren den daraus resultierenden Mehrbedarf an Pflegekräften in den Krankenhäusern mit bundesweit 40.000 bis 80.000 Vollzeitkräften.
An der Bremer Universität hat eine Forschungsgruppe um Heinz Rothgang ein Instrument zur bedarfsorientierten Personalbemessung in der stationären Langzeitpflege entwickelt. Demnach würden bundesweit 120.000 zusätzliche Vollzeitkräfte in den Pflegeeinrichtungen benötigt. „Das in unserer Studie berechnete theoretische Potenzial von über 170.000 Beschäftigten, die von Teilzeit in Vollzeit wechseln, würde große Teile dieses Bedarfs bereits abdecken“, sagt Auffenberg.
Hinsichtlich der Bezahlung verglichen die Befragten ihre Verantwortung im Pflegeberuf mehrfach mit Tätigkeiten bei Polizei und Feuerwehr. Daran orientierten sich auch ihre Gehaltsvorstellungen. Verlässliche Arbeitszeiten und mehr Mitsprache bei den betrieblichen Abläufen seien weitere wichtige Faktoren.
Streit über Tarifvertrag
Ein neuer Tarifvertrag Altenpflege verspricht den Beschäftigten deutliche Gehaltssteigerungen. In mehreren Schritten soll etwa der Mindestlohn für Pflegehelfer bis Juni 2023 auf 14,40 Euro steigen und für examinierte Fachkräfte auf 18,75 Euro. Das entspricht 2440 Euro brutto für die Helfer und 3180 Euro für Fachkräfte bei einer 39-Stunden-Woche – ein Plus von etwa 25 Prozent. Geeinigt haben sich darauf Verdi und die Bundesvereinigung der Arbeitgeber in der Pflegebranche (BVAP). Ihr gehört auch die Tarifgemeinschaft Pflege Bremen an, in der Pflegeeinrichtungen und Pflegedienste aus allen Wohlfahrtsverbänden im Land Bremen vertreten sind. Erklärte Absicht der BVAP ist es, den Tarifvertrag zum 1. August 2021 durch das Arbeitsministerium für allgemeinverbindlich erklären zu lassen, sodass er für die gesamte Altenpflege gilt. Doch es gibt bereits grundsätzlichen Widerspruch: Der mit der BVAP konkurrierende Arbeitgeberverband Pflege hat eine Klage auf Nichtigkeitsfeststellung des Tarifvertrags angekündigt. Die Begründung: Die Bundesvereinigung der Arbeitgeber in der Pflegebranche repräsentiere nur knapp drei Prozent der Altenpflegeunternehmen in Deutschland, und bei den Arbeitnehmern habe Verdi kaum Mitglieder. Die Gewerkschaft sei deswegen „tarifunfähig.“