Während andere Senioren regelmäßig ihren Hobbys nachgehen, in den Urlaub fahren oder auf dem Sofa sitzen und Kreuzworträtsel lösen, arbeitet die 84-jährige Helga Müller ehrenamtlich im Obdachlosen-Treff in Walle. 25 Jahre ist es her, dass eine private Initiative „Die Tasse“ ins Leben gerufen hat. In diesem Monat wurde Jubiläum gefeiert – und Helga Müller ist fast von Anfang an mit dabei. In der Fleetstraße 67a gehört sie quasi zum Inventar.
Jeden Donnerstagmorgen fährt Helga Müller mit dem Fahrrad die knapp acht Kilometer von ihrem Wohnort Grolland nach Walle, um in der „Tasse“ zu kochen. Wenn sie sich auf den Weg macht, ist ihr Rad meistens voll beladen. Den süßen Nachtisch für die ganze Mannschaft bereitet sie gerne schon zu Hause vor. „Wer mich unterwegs mit den ganzen Tüten und Taschen so sieht, könnte meinen, ich wäre selbst obdachlos“, scherzt die kleine Frau mit dem praktischen Kurzhaarschnitt.
Was es zu essen gibt, wenn sie Schicht hat, entscheidet der Zufall: „Ich verarbeite das, was ich habe“, sagt Helga Müller. Die Lebensmittel sind Spenden von Bremer Marktleuten, oder sie werden von den Zuwendungen privater Unterstützer bezahlt. Ein Dauerauftrag mit fünf Euro im Monat bewirkt hier einiges – die Ehrenamtlichen verstehen sich offenbar aufs Haushalten. Meistens gibt es Eintopf. Die Rezepte dafür hat Helga Müller im Kopf und sie weiß, was die Gäste besonders gerne mögen.
Herzhafte Hausmannskost mit ordentlich Biss. Zwei Zehn-Liter-Töpfe sind es jedes Mal. Dafür muss einiges an Gemüse geputzt und geschnibbelt werden. Den ganzen Vormittag sind sie in der „Tasse“ damit beschäftigt. Um kurz vor zwei Uhr sammeln sich die ersten Besucher vor der Tür. Die Suppe reicht dann meist nur eine Stunde. „Wer später kommt, für den haben wir belegte Brote“, beruhigt die 84-Jährige.
Jeder ist willkommen
Etwa 30 bis 50 Personen kommen an einem Öffnungstag vorbei. „Zum Monatsende hin sind es mehr“, weiß Helga Müller. Dann bewirten die Freiwilligen, die an fünf Tagen in der Woche in Wechselschicht arbeiten, bis zu 90 Gäste. Es sind hauptsächlich Männer, die im Gastraum zusammensitzen. An den Wänden hängen selbst gemalte Bilder, und die Tische sind mit geblümtem Wachstuch abgedeckt. Es wird geschnackt und herzhaft gelacht. Man kennt sich. Derweil arbeitet Helga Müller sich mit dem Stullenteller durch den Raum und sorgt dafür, dass keiner zu kurz kommt.
Die Luft im einzigen Raum ist zum Schneiden dick. Es wird Kette geraucht, und wenn dann noch die Spülmaschine aufgeht und dampft, schrillt der Rauchmelder unter der Küchenecke los. Mit einem routinierten Handgriff wird das Gerät ruhig gestellt. Kochen, abspülen, rauchen, waschen – in der „Tasse“ findet alles auf engstem Raum statt.
„Nebenan können die Gäste ihre Wäsche auf Vordermann bringen und duschen“, beschreibt Helga Müller das weitere Angebot. Wer keine Kleidung zum Wechseln dabei hat, für den findet sich etwas Passendes. Es gibt Jeans, Pullover, Jacken, Schuhe, Unterwäsche und Socken.
Nicht alle der Gäste sind auf der Straße, weiß Helga Müller. „Einige wohnen bei Freunden oder leben in einer bescheidenen Wohnung, manchmal ohne Dusch- und Waschgelegenheit.“ Wer wenig Geld zur Verfügung hat, dafür aber womöglich einen Sack voller Probleme durchs Leben trägt, der verliert mit der Zeit auch den sozialen Anschluss. Alkoholsucht, Scheidung, Schulden – in der „Tasse“ spielt das alles keine Rolle. „Bei uns ist jeder willkommen, der sich zu benehmen weiß“, bringt Helga Müller die Hausregeln auf den Punkt. Und wenn es doch mal anders kommt, dann lässt sie sich nicht so schnell aus der Ruhe bringen. „Ich kann mich ganz gut durchsetzen“, sagt die 84-Jährige über sich selbst.
In der „Tasse“ gibt es für die Gäste eine warme Mahlzeit, rustikale Gemütlichkeit, ein Schulterklopfen und ein freundliches Wort. Mehr nicht. „Früher habe ich mich mehr mit den Problemen der einzelnen Besucher beschäftigt. Heute höre ich mir das an und damit ist es dann auch gut“, erklärt Helga Müller, wie sie ihren Umgang mit den oftmals harten Realitäten gefunden hat.
Schon immer sozial engagiert
Dass Helga Müller einen besonderen Draht zu Menschen hat, deutete sich bereits während ihrer Schulzeit an. „Sozialarbeiterin“, lautete damals das Ergebnis des Berufseignungstests, erinnert sie sich. Doch als junge Frau schlug sie damals einen anderen Weg ein. Ihr Berufsleben verbrachte sie im Büro, und neben Haushalt und Familie engagierte sie sich als Vorsitzende des örtlichen Gemeinderats. „Als meine zweite Tochter aus dem Haus war, hatte ich mehr Zeit für solche Dinge“, sagt Helga Müller.
Sie packte bei der Inneren Mission Hilfspakete für Bedürftige in Rumänien, als sie von der „Tasse“ erfuhr. Kurz darauf schon hatte sie ihren ersten Tag. Das war vor mehr als 23 Jahren – und was sie einmal angefangen hat, das gibt sie so schnell nicht wieder auf. Die Begründung für ihr Engagement fällt einfach aus: „Ich finde, wenn man Zeit hat, kann man davon auch etwas abgeben.“ Und auf die Frage, wie lange sie angesichts ihres fortgeschrittenen Alters noch in der „Tasse“ arbeiten will, sagt Helga Müller: „So lange, wie ich noch Radfahren kann.“
Für die Gäste ist um Punkt 18 Uhr Schluss. Draußen gießt es in Strömen, aber keiner beschwert sich. Die Besucher kennen das Prozedere und halten sich daran. Wohin die einzelnen Männer und Frauen gehen, wenn sie von hier losziehen, weiß Helga Müller nicht. Nur so viel: „Einige leben auf der Parzelle, manche irgendwo in der Stadt.“ Schätzungen zufolge leben in Bremen und Bremerhaven etwa 300 bis 500 Menschen auf der Straße. Die genaue Zahl ist unbekannt.
Weitere Informationen
„Die Tasse“ wird ausschließlich aus privaten Spenden finanziert. Wer die Einrichtung unterstützen möchte, kann seine Spende an „Allwo – Hilfen für alleinstehende Wohnungslose e. V.“, IBAN DE75 2905 0101 0012 2918 86, Verwendungszweck Tasse, richten. Bei Angabe der Adresse gibt es eine Spendenbescheinigung und einen jährlichen Bericht.