So etwas war Marielle Müller noch nie zu Ohren gekommen. "Ein ganz lautes Geräusch, so ein Knall", sagt sie. Dann hörte sie auch schon die Nachbarn aufschreien. Ein gewaltiger Ast hatte sich aus der Krone einer Eiche gelöst, nun lag er quer über der Straße – das Kindertrampolin in ihrem Vorgarten hatte er unter sich begraben, dabei die massiven Stangen umgeknickt wie Streichhölzer. "Man muss sich das mal vorstellen", sagt die Mutter zweier Töchter, die eine vier, die andere sechs Jahre alt. "Was, wenn die Kinder gerade auf dem Trampolin gewesen wären?" In den Abendstunden keine Seltenheit, kurz vor dem Schlafengehen hüpfen sie gern auf dem Spielgerät.
Seit sechs Jahren bewohnt die Familie eine Doppelhaushälfte an der Oberneulander Landstraße. Ein idyllisches Plätzchen, gleich gegenüber befindet sich der sieben Hektar große Park des Guts Hodenberg. Doch es war kein Baum aus diesem Park, der Marielle Müller am Sonntagabend vor anderthalb Wochen einen "wirklichen Schock" versetzte. Sondern einer der Straßenbäume, die unmittelbar vor dem Parkareal stehen. Über die Ursache hegt die 39-jährige Lehrerin keinen Zweifel. "Das ist eine Folge der Trockenheit." Der Augenschein scheint sie zu bestätigen: Der Baum ist voll belaubt, auch der herabgestürzte Ast strotzte nur so vor grünen Blättern.
Immer öfter warnen Experten vor sogenannten Grünastabbrüchen. Also vor laubtragenden Ästen, die völlig gesund wirken und plötzlich doch abbrechen, ohne die geringste Vorwarnung. "So ein Astabwurf kündigt sich nicht an", sagt Kerstin Doty, Sprecherin des Umweltbetriebs Bremen (UBB). Deshalb sei es auch so gut wie unmöglich, wirksame Vorkehrungen zu treffen. "Wenn man vorher nichts sehen kann, kann man auch vorher nichts machen." Gleichwohl will Doty nicht missverstanden werden. Die Stadt habe die Situation im Blick. "Wir kontrollieren die Bäume sehr sorgsam."
Im Falle der Familie Müller hat die Kontrolle nicht geholfen. Nun steht erst einmal eine Menge Papierkram an, Versicherungsfragen müssen geklärt werden. Denn als der meterlange Ast herunterkrachte, ging nicht nur das Trampolin ging zu Bruch, das Auto wurde ebenfalls in Mitleidenschaft gezogen. Es sei jetzt in der Werkstatt, berichtet Marielle Müller. "Vielleicht ist es ein Totalschaden." Zwar kann sie sich damit trösten, dass der Wagen Vollkasko versichert ist. Ganz folgenlos bleibt der Vorfall aber nicht. "Hochgestuft werden wir trotzdem", sagt Müller. Wer für das Trampolin aufkommt, ist noch unklar. Entweder die Gebäude- oder Hausratsversicherung. "Das wird gerade geprüft."
Bisher fühlte sich Marielle Müller sicher in ihrem Haus. "Bei Sturm habe ich nie Angst gehabt, wenn sich die Eichen hin und her bewegen", sagt sie. Doch damit ist es nun vorbei. Zumal am Montag schon wieder ein kapitaler Ast herabgestürzt ist. Diesmal landete er im Vorgarten der Nachbarn. Wieder ging es glimpflich aus, niemand wurde verletzt, nur ein geringer Sachschaden war zu verzeichnen. Fragt sich nur, wie lange das noch gut geht. "Auf der Straße sind ja auch Fußgänger und Fahrradfahrer unterwegs", sagt Müller. Darunter jeden Tag Hunderte von Schul- und Kindergartenkindern.
Vom Handeln der Behörde ist die Mutter nicht überzeugt. Gleich am nächsten Tag habe man sich an den Umweltbetrieb gewandt, aber niemanden erreicht, dann Mails geschrieben. "Erst zwei Tage später, am Mittwoch, ist jemand gekommen." Der habe ein paar Mal mit dem Hammer gegen den Stamm geklopft, das sei es auch schon gewesen. "Aber vielleicht reicht das nicht mehr", kritisiert Marielle Müller. "So kann man doch nicht sehen, was oben in der Krone los ist."
In ganz Bremen stehen mehr als 220.000 Bäume im öffentlichen Raum. Die früheren Dörfer Borgfeld, Schwachhausen, Horn-Lehe und Oberneuland im Nordosten der Stadt sind besonders reich mit Bäumen gesegnet, 40.000 gibt es dort. In diesem Bezirk drehen vier Baumkontrolleure regelmäßig ihre Runden. "Die Bäume werden das ganze Jahr über kontrolliert", sagt UBB-Sprecherin Doty. Der erste Schritt ist eine Sichtkontrolle, bei Auffälligkeiten geht es in die nächste Instanz.
Auf Schäden achtet man laut Doty ebenso sehr wie auf Standhaftigkeit. "Wenn Totholz in den Kronen ist, werden Maßnahmen ergriffen." Oberste Priorität habe die Verkehrssicherheit – mithin die Sicherheit aller Menschen, die sich unter den Bäumen bewegten. Im äußersten Fall wird ein kranker Baum gefällt. So wie vor zwei Jahren das Exemplar neben jener Eiche, die jetzt einen Ast weniger hat. Nur noch ein halbhoher Stumpf ragt aus dem Erdreich empor.
Doch wie Abhilfe schaffen, wenn kein Schaden zu sehen ist? Hilft mehr wässern, um die Bäume vor Austrocknung zu bewahren? Doty verneint. "Es ist unmöglich, jeden einzelnen Baum in Bremen zu wässern." Junge Bäume erhielten bis zu 200 Liter pro Bewässerungsgang, ältere bräuchten mehr, sie bedienten sich beim Grundwasser. Sei davon nicht genug vorhanden, so ein Fachmann, werde Luft statt Wasser angesaugt. Die Folge: Die Spannung geht verloren, gesunde Äste brechen ab.
Wirklich sicher fühlen sich etliche Anwohner an der Oberneulander Landstraße nicht mehr. Die Nachbarschaft hat inzwischen diverse Mails geschrieben: an den Umweltbetrieb, die Umweltsenatorin, die Polizei. "Unsere Angst ist jetzt natürlich sehr groß", sagt Marielle Müller. Am liebsten wäre es ihr, wenn mit dem Baum von gegenüber kurzer Prozess gemacht würde. Denn: "Mein Vertrauen zu dieser Eiche ist hin."