Tischgebete gab es in seiner Kindheit nicht. Gottesdienste besuchte er nur an Weihnachten, manchmal an Ostern. Gunnar Held stammt aus keiner frommen Familie. Heute ist er Pastor im Gemeindeverbund Immanuel und Walle, lebt mit seinem Mann und den zwei Kindern im Pfarrhaus. Seit 13 Jahren schreibt er Predigten, betreut Konfirmanden-Gruppen und setzt sich dafür ein, dass Kirchen im Bremer Westen eine Zukunft haben – und Vielfalt leben.
„Wir sind zunehmend gefragt, unsere Stimme für die zu erheben, die keine haben.“ Die Kirche als Anwältin, sagt Held. Für Alleinerziehende und Arbeitslose, Migranten und Kinder. „Der Mensch hat einen Wert, der nicht vom Bankkonto abhängig ist.“ Die Kirche müsse sich dafür einsetzen, dass nicht alles der Gewinnmaximierung untergeordnet wird. Menschlichkeit, Gerechtigkeit, die Hoffnung auf Frieden – Werte, die unter die Räder anderer Interessen kämen. „Man mag an der Kirche zurecht Dinge auszusetzen haben. Aber sie ist ein Schutzraum für diese alten Überzeugungen.“ Wichtig sei außerdem der Schutz der Umwelt. „Oder christlich gesprochen unserer Schöpfung.“
Keine einfache Aufgabe. Kirche könne der Gesellschaft nur dann helfen, wenn die Gesellschaft auch der Kirche hilft, sagt Held. „Sie funktioniert nur, wenn uns Menschen unterstützen, die uns gerade nicht brauchen.“ Kirche ist eine Solidargemeinschaft – doch immer mehr Deutsche entscheiden sich gegen Solidarität. Rund 6000 Austritte verzeichnete die Bremisch Evangelische Kirche vergangenes Jahr.
Mutter Diakonin, Vater Arzt, beheimatet Nahe Hannover. Der 46-Jährige ist aufgewachsen mit etwas, das er christliche Alltagshaltung nennt. „Meine Mutter hatte mich zum Kindergottesdienst angemeldet, aber das fand ich nach zwei Malen doof.“ Es war der Konfirmandenunterricht, der ihm Kirche näher gebracht hat. Das war Ende der Achtziger, eine Zeit, in der die Jugend auf dem Dorf noch relativ großflächig hingegangen sei. Held findet Zugang zu Glaube und Spiritualität, ist begeistert von der Gemeinschaft. Seine Erkenntnis: „Mit Gott sind wir viel besser dran als ohne.“
Schwierig Gleichgültigkeit etwas entgegenzusetzen
Diese Ansicht teilen immer weniger Deutsche. „Es gibt die einen, die der Kirche kritisch gegenüberstehen. Dann gibt es die anderen, denen wir einfach egal sind. Ich glaube, dass das mittlerweile der Großteil ist“, sagt Held. „Mit Kritik können wir uns konstruktiv beschäftigen; Gleichgültigkeit etwas entgegenzusetzen, finde ich schwierig.“ Trotzdem immer wieder ins Gespräch zu gehen, sei deswegen eine der größten Herausforderungen. „Eine Hauptaufgabe der kirchlichen Mitarbeitenden ist das Dolmetschen.“ Genau zuhören, um zu verstehen, was die Menschen bewege – und dann Antworten finden in einer Sprache, die sie auch verstünden.
Was macht dieses Leben sinnvoll, wenn ich nicht mehr arbeiten gehen darf? Wie funktioniert Vereinbarkeit von Familie und Beruf? Wie wollen wir überhaupt leben? „Es brechen Fragen auf, die wir uns vorher nicht gestellt haben. Das erleben wir gerade in dieser Corona-Zeit“, sagt der Pastor.
Etwas Neues probiert die Kirche bereits in der Überseestadt: „Im Netzwerk Überseekirche erleben wir, was es für eine Herausforderung ist, Formate und eine Sprache zu finden, mit denen wir Menschen erreichen.“ Bewusst hätten sie sich dazu entschieden, einen Laden zu mieten, damit Menschen leichter miteinander ins Gespräch kämen. „Es ist aber auch eine reizvolle Aufgabe.“
Held lebt zusammen mit seinem Mann und den zwei Kindern im Pfarrhaus, das eine im Kindergarten-, das andere im Krippenalter. Ihre Erfahrungen: positiv. „Die Menschen freuen sich, dass wir da sind. Sie freuen sich, dass Kirche sich gewandelt hat. Dass es möglich ist, dass Kirche so offen ist.“ Held glaubt, dass seine Erfahrungen zunehmend Alltag würden – ob sie es bereits sind, wagt er nicht zu beurteilen. „Ich fürchte nicht. Aber ich glaube, dass sich die Kirche in ihrer großen Mehrheit und die Gesellschaft als Ganzes geändert haben.“
Eine große Schuldgeschichte
Es sei aber nicht zu leugnen, dass die Kirche der LGBTQI-Community (Abkürzung für lesbisch, schwul, bisexuell, trans, queer und intersexuell) gegenüber eine große Schuldgeschichte habe. Held könne verstehen, dass Teile dieser Gemeinschaft nichts mehr mit Kirche zu tun haben wollten; über Jahrhunderte seien Wunden geschlagen worden, die nicht verheilt sind und vielleicht nie werden. Umso erfreulicher sei die Anfrage vom Christopher Street Day an die Bremisch Evangelische Kirche gewesen, auch in diesem Jahr einen gemeinsamen Gottesdienst zu feiern. „Es war wirklich eine ganz lebendige Mischung bei diesem Gottesdienst und fast alle Plätze belegt.“
„Die Bibel erinnert uns ja daran: Gott ist die Liebe und wer in der Liebe bleibt, der bleibt in Gott und Gott in ihm oder ihr.“ Das sei nur ein Beispiel, das den Menschen sage, dass die Liebe etwas Großartiges, etwas Wunderbares, ein Geschenk sei, sagt Held. „Sie ist etwas Göttliches, wo sie ehrlich und in Freiheit gelebt wird.“ Das feiere die Kirche und das solle der Gottesdienst deutlich machen. „Und, dass wir Vielfalt leben.“
Dennoch: Für den Pastor aus Walle ist es manchmal schwer zu sehen, dass Gottesdienste immer weniger Besucher haben, schließlich hätten sie dort die schönste Botschaft der Welt. „Natürlich macht es mich traurig, dass diese Botschaft die Menschen nicht mehr erreicht, bewegt oder interessiert.“ Aber er habe gelernt, dass die, die kommen, auch die richtigen seien. Held: „Sie tragen ja auch etwas weiter. Es ist manchmal schon erstaunlich, dass man etwas aus Gottesdiensten hört von Menschen, die gar nicht da waren.“