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Gespräch mit Patrick Graichen Wie ein Staatssekretär die Bremer Klimaschutzstrategie beurteilt

Wenn Bremen in den Klimaschutz investiert, sind Schulden vertretbar. Diese Ansicht vertritt Patrick Graichen, Staatssekretär im Bundeswirtschaftsministerium. Er widerspricht damit dem Bundesfinanzminister.
06.09.2022, 05:00 Uhr
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Wie ein Staatssekretär die Bremer Klimaschutzstrategie beurteilt
Von Jürgen Theiner

Herr Graichen, Sie sind am Dienstag in Bremen, um über die "Bremer Klimaschutzstrategie vor dem Hintergrund der aktuellen europäischen Lage" zu sprechen. Für viele Menschen stellt sich diese Lage so dar, dass sie nicht wissen, wie sie im Winter ihre Gasrechnung bezahlen sollen. Haben Sie Verständnis für Menschen, die sagen: Lasst mich für den Moment mit Klimaschutz in Ruhe, ich habe andere Sorgen?

Patrick Graichen: Der Klimaschutz und diese Sorgen haben miteinander zu tun. Wir müssen raus aus der Kostenfalle, und das heißt: raus aus teurem russischen Gas. Damit ist man dann automatisch bei den Klimaschutzthemen.

Politische Großprojekte wie der Klimaschutz sind auf gesellschaftliche Akzeptanz angewiesen. Deshalb noch mal: Haben Sie nicht die Befürchtung, dass in der aktuellen politischen Großwetterlage das Verständnis für die Wichtigkeit dieses Themas schwindet?

Diese Sorge habe ich überhaupt nicht. Durch den Energiekrieg, den Putin zurzeit mit uns ausficht, ist deutlich geworden, dass wir uns unabhängig machen müssen von Kohle-, Öl- und Gasimporten aus Russland. Die Antworten auf diese Herausforderungen sind erneuerbare Energien, Energieeffizienz und Elektrifizierung. Anders gesagt: Das, was gut ist gegen Putin, ist auch gut fürs Klima. Nicht umsonst stehen ja bei vielen Menschen zurzeit Themen wie Balkon-Solaranlagen und Wärmepumpen ganz oben auf der Agenda.

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Bevor Sie im Herbst 2021 Staatssekretär wurden, haben Sie die Bremer Klima-Enquetekommission beraten. Herausgekommen ist ein Bündel von Empfehlungen, das von grünem Stahl bis zu energetischer Sanierung von Gebäuden reicht. Der Senat ist gerade dabei, eine Liste mit Vorrangprojekten zusammenzustellen. Was gehört aus Ihrer Sicht auf diese Liste?

Darauf gehört vor allem eine Strategie zum Ausstieg aus dem Gas.

Die was beinhaltet?

Fernwärme grün machen, Fernwärme ausbauen, Wärmepumpenoffensive. Das zweite große Vorrangprojekt wäre das Projekt "Grüner Stahl", also die Hütte bis 2025 einen großen Schritt in Richtung Elektrifizierung der Produktionsprozesse voranzubringen.

Überschlägig berechnet, würde es sechs, sieben Milliarden Euro kosten, all die Projekte zur CO2-Reduzierung zu finanzieren, die von der Klima-Enquete vorgeschlagen wurden. Dieses Geld hat Bremen nicht. Der Senat neigt deshalb dazu, eine Klimanotlage zu erklären, um eine Ausnahme von der Schuldenbremse zu rechtfertigen und die Maßnahmen mit Krediten zu finanzieren. Gehen Sie da mit?

Ja, uneingeschränkt. Wir haben jetzt tatsächlich eine Notlage, die Investitionen in den Klimaschutz gebietet. Es muss jetzt investiert werden. Über die nächsten Jahre und Jahrzehnte werden sich diese Investitionen rentieren. Wenn man aus Geldknappheit jetzt nicht investiert, wird man jahrzehntelang in die falsche Richtung laufen. Aber ich betone: Es geht um Investitionen, es darf nicht in den konsumtiven Bereich gehen. Wir reden von langfristig wirksamen und sich refinanzierenden Maßnahmen. Dafür wäre eine Schuldenaufnahme gerechtfertigt. Wir dürfen da keine Zeit verlieren.

Der Bundesfinanzminister sieht das anders. Gegenüber dem WESER-KURIER hat er erst vor wenigen Tagen eine Aufweichung der Schuldenbremse für den Klimaschutz ausgeschlossen. Lockerungen seien nur erlaubt, um die Folgen schockartig auftretender Ereignisse wie der Ukraine-Krise aufzufangen. "Strukturelle und langfristige Herausforderungen sind kein Grund", sagte er wörtlich. Das ist ein Veto.

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Die Frage muss von der Bundesregierung insgesamt beantwortet werden.  Wir haben ja auch auf Bundesebene mit dem kreditfinanzierten Energie- und Klimafonds ein Instrument entwickelt, um zusätzliche Investitionen in diesem Bereich anzuregen. In dieser Logik wäre es auch, entsprechende Instrumente auf der Ebene der Bundesländer zu schaffen. Da muss man also in die Diskussion gehen, dann werden sich auch Lösungen finden.

Zurück zur aktuellen Lage. Es gibt seit Wochen eine Debatte darüber, wer bei möglichen Versorgungsengpässen im Winter bevorzugt mit Gas versorgt werden soll. Die Industrie hätte zunächst das Nachsehen. Viele Unternehmen könnten aber schon vorher in die Knie gehen, einfach weil die Energiepreisexplosion die Produktion unrentabel macht. Die Bremer Hütte hat bereits angekündigt, einen ihrer Hochöfen herunterzufahren. Sind das nicht Vorboten einer brandgefährlichen Entwicklung?

In der Tat. Die sehr hohen Energiepreise haben natürlich Auswirkungen. Wir schauen uns das sehr genau an und haben ja auch bereits Entlastungspakete geschnürt. Die Aufgabe besteht jetzt darin, die Balance zu halten zwischen ausreichender Gasverbrauchsreduktion, die wir brauchen, um über den Winter zu kommen, und gleichzeitigen Rettungsmaßnahmen für die Industrie, damit sie im nächsten Jahr noch gut dasteht.

Etwas konkreter bitte: Wie kann energieintensiven Betrieben, von denen es in Bremen einige gibt, jetzt geholfen werden?

Wir haben als Bundeswirtschaftsministerium ein Energiekosten-Dämpfungsprogramm aufgelegt, das energieintensiven Industrien einen Teil der Energiekosten abnimmt – basierend auf dem Vorjahresverbrauch. Das ist auch etwas, wovon Arcelor-Mittal profitieren kann. Mit diesem Paket werden wir gut durch den Winter kommen.

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Sie haben kürzlich angekündigt, dass es weitere Einsparvorgaben für Privathaushalte geben wird, bevor es zu Abschaltungen bei industriellen Großverbrauchern kommt. Auf was müssen sich die Bürger da einstellen?

Wenn es zu einer Notfalllage kommt, stehen wir vor schwierigen Entscheidungen. Es würde dann darum gehen, Industrieverbraucher abzuschalten und damit Tausende von Arbeitsplätzen zu gefährden oder im geschützten Bereich – also vor allem bei Privathaushalten – Verbrauchsreduktionen vorzunehmen. Keine von beiden Alternativen ist schön.

Wozu neigen Sie?

Es wird jeweils darum gehen, Verbrauchsfelder zu identifizieren, von denen man sagen kann: Es ist zwar nicht schön, hier zu sparen, aber es geht auch ohne solche Annehmlichkeiten.

Sie sprachen kürzlich auf den Berliner Energietagen von "Luxusbereichen". Was fällt für Sie unter Luxus?

Wir haben ja bereits mit dem Verbot des Beheizens von Swimmingpools angefangen. Wenn es noch enger wird, muss man darüber nachdenken: Was braucht man für den täglichen Bedarf nicht dringend? Dann landet man zum Beispiel bei der Sauna, die nicht mehr beheizt werden wird. Besser ist aber eine Art freiwilliges Sparen, bei dem alle mitziehen und einen Anteil, so wie es möglich ist, leisten.

Das Gespräch führte Jürgen Theiner.

Zur Person

Patrick Graichen

ist seit 2021 beamteter Staatssekretär im Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz. Der 50-Jährige war zuvor Geschäftsführer der renommierten Denkfabrik "Agora Energiewende". Vor seinem Wechsel in die Politik beriet er in dieser Eigenschaft die Klima-Enquetekommission der Bremischen Bürgerschaft.

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