Die Nerven liegen blank. „Sie dürfen nicht mit den Jugendlichen sprechen, wenn ihre Amtsvormünder nicht dabei sind. Und Sie kommen hier nicht rein.“ Die Leiterin der früheren Zentralen Aufnahmestelle (ZASt) hat sich vor dem Eingang des Wohnheims an der Steinsetzerstraße postiert.
Vor ihr steht eine Gruppe von Journalisten, die sich einen Eindruck von dem Gebäude verschaffen will, in dem zurzeit rund 200 unbegleitete minderjährige Flüchtlinge leben. Wegen eines massiven Befalls mit Bettwanzen muss das Flüchtlingswohnheim in den nächsten Tagen komplett geräumt werden. „Hier passiert heute gar nichts, es gibt nichts zu sehen“, sagt die Wohnheim-Leiterin und versucht die Reporter mit abwehrenden Handbewegungen zum Rückzug zu bewegen.
Sie bleiben. Kamerateams filmen, Fotografen haben ihre Apparate auf Eingang und Fenster gerichtet. Eigentlich sind die Journalisten gekommen, um sich in dem Gebäude, das nun immer stärker für den Umgang mit minderjährigen Flüchtlingen in Bremen steht, einen Überblick zu verschaffen. Der wird ihnen verwehrt. Rechtsanwalt Jan Sürig, der aus dem gleichen Grund in die Steinsetzerstraße gekommen ist, reagiert empört: „Wenn man nichts zu verbergen hat, sollte das eigentlich möglich sein. Aber das spricht Bände.“
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Immer mehr der Jugendlichen, die hier leben, versammeln sich vor ihnen und wollen erzählen, wie es drinnen aussieht, unter welchen Bedingungen sie dort wohnen. Einer von ihnen berichtet, dass er seit mehr als sechs Monaten darauf wartet, endlich aus dem überbelegten Gebäude ausziehen zu können. Ein anderer erzählt, dass es bereits mehrere Suizidversuche von minderjährigen Bewohnern gegeben habe, „weil sie es nicht mehr aushalten“. Durch die beengten Verhältnisse komme es immer wieder zu aggressivem Verhalten und Streitigkeiten zwischen den Bewohnern.

Ein Schlafraum in dem überfüllten Wohnheim: Nicht für alle minderjährigen Bewohner gibt es Bettgestelle.
Nicht nur der Schädlingsbefall hat das öffentliche Interesse auf die ZASt gerichtet. Die Linken-Politikerin Sofia Leonidakis hat das Wohnheim vor zwei Tagen besucht, mit Jugendlichen gesprochen und über „katastrophale hygienische Zustände“ berichtet. Ihre Fotos zeigen Matratzenlager in Kellerräumen, marode Deckenverkleidungen, heruntergekommene Sanitäranlagen. „Schockierend, katastrophal“, sagt sie. Der Sozialbehörde wirft sie eine Gefährdung des Kindeswohls vor. Und: Dass diese Zustände in der Behörde seit Langem bekannt seien, aber ignoriert würden.
Draußen, vor dem Wohnheim, spitzt sich die Lage zu. Ein Mitarbeiter des Sicherheitsdienstes droht den wartenden Journalisten, die Polizei zu rufen. Die kommt nicht – dafür zwanzig Minuten später Sozialsenatorin Anja Stahmann (Grüne) mit ihrem Sprecher. Ob sie einen Hilferuf von der Wohnheimleitung bekommen hat? „Nein, nur ein Zufall, wir wollten ohnehin mal vorbeischauen“, sagt sie. Ob Zufall oder nicht, Stahmann muss sich den Fragen der Journalisten stellen. Eine improvisierte Pressekonferenz, zu der die Senatorin nicht geladen hat. Und sie wiederholt das, was ihr Sprecher gestern bereits auf Nachfragen mitgeteilt hat: Das Gebäude wird geräumt, desinfiziert, saniert. Alte Teppiche werden durch wischbare Böden ersetzt, Sanitäranlagen modernisiert, die Einrichtung überholt.

Sofia Leonidakis (Mitte) von der Linken wirft der Senatorin Kindeswohlgefährdung vor.
Erwachsene Flüchtlinge, die hier noch leben, sollen ins Bundeswehrhochhaus ziehen, das sei jetzt geklärt. Minderjährige würden auf andere Jugendhilfeeinrichtungen verteilt, möglicherweise in leer stehenden Hallen oder Baumärkten untergebracht. Ja, auch Zeltlager seien als Notbehelf im Gespräch. „Das ist keine optimale Lösung, und wir wollen das immer noch vermeiden“, sagt Stahmann. „Aber: Wir befinden uns wegen der steigenden Flüchtlingszahlen ohnehin in einer Notsituation. Und das hier ist jetzt noch mal eine besondere Zwickmühle, mit der niemand gerechnet hat.“ In den Sommermonaten seien Zelte eine „gangbare Lösung“.
Das sehen Kritiker wie die Linken-Politikerin Leonidakis anders. Bereits vor drei Jahren habe der Flüchtlingsrat bemängelt, dass die Menschen in der Steinsetzerstraße in unzumutbaren Zuständen lebten. Inzwischen handele es sich bei den Bewohnern jedoch vor allem um Kinder und Jugendliche, für die solche Verhältnisse keinesfalls akzeptabel seien. Stahmann wehrt die Vorwürfe ab. „Das ist nicht die beste Immobilie“, sagt sie. „Und wir wissen, dass wir damit hier einen Schwachpunkt haben, aber wir haben in der Sozialbehörde nichts verschlafen.“