Frau Böhmen, Herr Stiller, die Ausstellung "Junge Wilde - Tierisch erwachsen werden" war vor dem Lockdown im November 2020 nur ein paar Tage zu sehen. Am 2. Oktober öffnet die Schau erneut. Für Sie als Kuratoren ist das eine merkwürdige Situation - wie gehen Sie damit um?
Michael Stiller: Es war im vergangenen Jahr vor allem eine traurige Situation, weil wir anfangs nicht wussten, ob wir wieder öffnen können. Wir haben uns dann aber dazu entschlossen; es stecken eine Menge Engagement, zwei Jahre Vorarbeit und Geld in der Ausstellung. Wir haben dann erst einmal alles verpackt, um die Objekte zu schützen. Die wären sonst verstaubt.
Helen Böhmen: Ein wichtiger Teil der Ausstellung sind die Inszenierungen von Lebensräumen – da sind die präparierten Tiere fest eingebaut. Das hätte keinen Sinn gemacht, die wieder abzubauen. Ich war besonders traurig, weil ich mir schon ein Begleitprogramm zur Ausstellung überlegt hatte und mein damaliger Vertrag Ende 2020 auslief. Inzwischen arbeite ich in der Museumspädagogik und freue mich, die Veranstaltungen jetzt umsetzen zu können.
Stand es zur Debatte, die Ausstellung abzubauen und ausfallen zu lassen?
Michael Stiller: Ja, weil einige der Leihgaben zentrale Stücke der Ausstellung sind. Wenn wir die nicht hätten behalten können, dann wäre das das Aus für die "Jungen Wilden" gewesen. Außerdem planen wir als Museum unser Programm langfristig. Es musste daher zudem geklärt werden, dass ein weiteres Ausstellungsprojekt um ein Jahr nach hinten verschoben werden konnte. Wir hatten Glück, dass das beides passte.
Mussten Sie nach so langer Zeit etwas ändern, beispielsweise Begleittexte auf den neuesten Stand bringen?
Michael Stiller: Nein, da sind wir als Naturkundler definitiv im Vorteil. Die Forschungserkenntnisse überdauern bei uns länger, da geht es weniger um Aktualität als in anderen Bereichen. Die Ausstellung befasst sich grundsätzlich mit bestimmten biologischen Prozessen, so viel tut sich auf diesem Gebiet nicht, was die Forschung angeht. Es gibt eher wenige Studien darüber, wie Tiere leben, sich vermehren, welchen Herausforderungen sie sich stellen müssen.
Helen Böhmen: Die Grundlage dafür sind langfristige Beobachtungen, und die kosten viel Zeit und Geld. Von daher bleibt vieles im Bereich des Vagen.
Wie sind Sie grundsätzlich auf die Idee gekommen, eine Ausstellung darüber zu gestalten, wie Tiere aufwachsen?
Michael Stiller: Uns ist aufgefallen, dass wir in unserem Magazin, aber auch in den Sammlungen, sehr viele Präparate von jungen Tieren haben. Da gab es dann die Idee: Wir machen zu Ostern dazu eine kleine Ausstellung, für ein paar Wochen. Als wir intensiver darüber nachgedacht haben und das auch hier im Haus vorgestellt haben, wurde schnell klar - das Thema ist zu umfassend und übrigens auch zu attraktiv, um so eine Ausstellung nur kurz zu zeigen. Also haben wir groß gedacht.
Und außerdem an Menschenkinder: Wenn man sich in den Räumen umschaut, dann fällt auf, dass sich die Ausstellung stark an Familien richtet.
Helen Böhmen: Auf jeden Fall. Es geht auch immer darum, wie Menschen diese Phasen des Lebens erlebt haben, als Kinder, als Jugendliche, als Eltern.
Michael Stiller: Als Naturwissenschaftler sehe ich uns Menschen auch als biologische Wesen, da gibt es viele Parallelen. Menschenkinder sind oft vor die gleichen Probleme gestellt wie Tierkinder und ihre Eltern. Unsere zentrale Frage ist: Welchen Aufwand muss man betreiben, um seinen Nachwuchs großzuziehen und in die Welt zu entlassen?
Da geht es auch immer wieder ums Lernen. Welche Methode hat Sie dabei am meisten erstaunt?
Michael Stiller: Das waren für mich die Elefanten, die sehr lange brauchen, um ihre Kinder aufzuziehen, und zwar im Verbund. Die Weibchen müssen sich dabei gegenseitig unterstützen; die jüngeren müssen von den älteren lernen. Im Tierreich ist eben nicht alles Instinkt – das Lernen macht einen großen Anteil aus.
Helen Böhmen: Ich finde es total faszinierend, wie Erdmännchen lernen, Skorpione zu fressen. Ein erwachsenes Erdmännchen ist eine Art Lehrer, mit dem die Jungen das üben, und zwar in mehreren Schritten. Nicht die eigenen Eltern bringen den Jungen das bei, sondern Mentoren.
Haben Sie das auch noch bei einer anderen Tierart beobachtet?
Helen Böhmen: Nicht in unserer Ausstellung, aber in der Dauerausstellung. In der "Afrika"-Abteilung gibt es Zebra-Mangusten. Auch bei dieser Raubtierart bringen Mentoren den Jungen bei, wie man sich etwas zu fressen sucht. Andere Jungtiere schauen sich bei ihren Eltern etwas ab. Bei am Meer lebenden Rotgesichtsmakaken lernen die Jungen von ihren Müttern, wie man Süßkartoffeln im Wasser wäscht und gleichzeitig salzt. Der Vorteil: Die Kartoffeln sind nicht mehr schmutzig und durch das Salz nahrhafter als zuvor.
Michael Stiller: Bei den afrikanischen Wildhunden gibt es sogar so eine Art Kindergarten. Einige Tiere sind abgestellt, um auf die Jungen aufzupassen, während die anderen auf die Jagd gehen. Die Aufgabe der Aufzucht wird geteilt: Die einen sorgen für Nahrung, die anderen für Schutz.
Das klingt wie der berühmte Spruch von dem Dorf, das es braucht, um ein Kind großzuziehen.
Michael Stiller: Genau. Da könnten sich die Menschen vielleicht etwas abgucken bei der Natur. Unsere Beispiele zeigen ja auch, dass es nicht einfach ist, Kinder alleine großzuziehen. Oft bedarf es mehrerer, die sich unterstützen.
Nun sind Tierkinder ja wahnsinnig niedlich. Wie vermeidet man es als Ausstellungsmacher, dass Besucher nur diesen Aspekt wahrnehmen?
Michael Stiller: Ja, die sind alle sehr süß, aber wir binden sie immer ein in Geschichten. Es kommen nicht nur die schönen Seiten der Kindheit vor. Beispielsweise überlebt nur ein kleiner Teil des Nachwuchses und erreicht das Erwachsenenalter. Bei einigen Arten sterben mehr als 99 Prozent der Nachkommen innerhalb der ersten Tage. Auch uns verwandte Arten wie Schimpansen haben einen relativ geringen Reproduktionserfolg. Wenn wir über Artensterben sprechen, dann geht es genau darum: Die Tiere schaffen es nicht mehr, sich fortzupflanzen, weil Lebensraum verloren geht, es immer weniger geschützte Plätze gibt und sie nicht mehr genug Mittel vorfinden, Junge großzuziehen.
Die Menschen dagegen werden immer mehr und beanspruchen auch immer mehr Raum. Und der Klimawandel hat auch seinen Anteil, oder?
Michael Stiller: Es gibt Tiere, die durch die steigenden Temperaturen Probleme mit der Vermehrung bekommen. Ein Beispiel: Bei Krokodilen ist die Bestimmung des Geschlechts hormonell bedingt; Hormone sind aber abhängig von den Temperaturen im Ei. Wird es immer wärmer, schlüpfen nur noch Weibchen. Bei anderen Arten ist es umgekehrt - das heißt: Es kommt auf einmal ein Geschlecht gar nicht mehr vor.
Sie beenden Ihre Ausstellung mit einer Frage. Die Besucher sollen sich entscheiden, welches Tierkind sie seien möchten. Welche Antwort haben Sie darauf?
Helen Böhmen: Ich wäre gerne ein Delfin oder ein Orca. Ich bin immer gerne im Wasser, und außerdem sind das Tiere, die mich faszinieren, weil sie in interessanten Sozialstrukturen leben.
Michael Stiller: Ich wäre gerne ein Vogel, weil mir das eine ganz andere Perspektive ermöglichen würde. Und ich mag diese Leichtigkeit, die man damit verbindet, ein Vogel zu sein.
Das Gespräch führte Iris Hetscher.