Dies ist die Geschichte von Waltraut aus Bremen-Walle und Joschi aus Wien, und es ist eine durchaus ungewöhnliche Liebesgeschichte. Doch das ist nicht alles. Denn es geht auch um die Zeit, in der die beiden sich noch nicht kannten und in völlig anderen Welten lebten. Als Joschi, der österreichische Jude, nach Palästina fliehen musste vor dem Mordwahn der Nationalsozialisten und Waltraut mit ihren Eltern ausgebombt wurde und in einen Eisenbahnwaggon zog.
Es ist eine Geschichte wie ein wüster Wirbel, vollgestopft mit dem, was die Zeitläufte Menschen im 20. Jahrhundert zugemutet haben, hinzu kommen private Schicksalsschläge. Wäre das alles ausgedacht, müsste die Kritik lauten: Das ist zu viel auf einmal. Doch "Solange wir leben" ist wahr. Der Bremer Schriftsteller David Safier erzählt in seinem im April 2023 erschienenen Roman die Biografie seiner Eltern. Nun hat Alize Zandwijk das Buch in einer Bühnenfassung von John von Düffel am Theater Bremen als knapp vier Stunden dauernden, atemberaubend grandiosen Abend inszeniert, der einen hinterher lange einfach nicht loslassen will.
Wie ist der Roman umgesetzt?
John von Düffel bleibt bei der Struktur des Romans, dessen erster Teil parallel von Joschi (Guido Gallmann) und Waltraut (Shirin Eissa) erzählt. Zwei Leben, die sich völlig unabhängig voneinander entwickeln, ohne Hinweise darauf, dass sie sich irgendwann verknüpfen könnten. Joschi, der gerne Bauingenieur geworden wäre, ist geprägt von der Flucht und dem Trauma, dass er seine Eltern nicht vor dem Terror der Nazis retten konnte. Er wird zum Suchenden, der schließlich zur See fährt. Waltraut ertrotzt sich in den 1950er-Wirtschaftswunder-Jahren einen Ausbildungsplatz bei Karstadt, wird schwanger, heiratet, und ist Witwe, bevor ihre Tochter geboren wird. Joschi hat sich derweil von seiner Frau Dora (Susanne Schrader) entfremdet, einer KZ-Überlebenden. Und er trinkt viel zu viel.
Wie ist das inszeniert?
Auf der von Thomas Rupert gestalteten tief nach hinten gezogenen Bühne finden beide Welten parallel statt. Ein grünliches, gammelig wirkendes Muster bedeckt die Wände, mit Projektionen (Video: Wim Bechtold) präzisiert Zandwijk, wo und wann man sich gerade befindet. Düffels Sinn für Verdichtung ergänzt sich kongenial mit Alize Zandwijks Händchen für Timing und dem genau gesetzten Wechsel zwischen komischen und tragischen Szenen. Manchmal gibt es sogar echte Kabinettstückchen wie das Herumzicken einer überkandidelten Zahnarztgattin bei Karstadt (garstig: Lieke Hoppe) oder den misslungenen Besuch Waltrauts mit einem reichen Verehrer (pomadig: Paul Schröder) in einem Konzert der Philharmoniker. Und so entwickelt sich "Solange wir leben" zu einem Panorama von Lebensleid und Lebensfreude, ohne in eine Richtung wegzubrechen.
Im zweiten Teil nach der Pause, als Joschi und Waltraut sich kennenlernen und es nur noch einen Handlungsstrang gibt, läuft dieses Konzept zu Hochform auf – denn die Schicksalsschläge prasseln nun in immer kürzeren Abständen auf beiden ein: Krankheiten, Pleiten, sozialer Abstieg, Alkoholismus. Was sie zusammen hält: die Liebe.
Wie agiert das Ensemble?
Acht Schauspielerinnen und Schauspieler sind in 18 Rollen zu sehen, und wie immer bei Zandwijk trägt das Ensemble wesentlich den Abend. Herausragend sind die beiden Hauptdarsteller. Guido Gallmann lässt seinen Joschi mal zerbrechlich und unendlich erschöpft wirken, dann wieder ist er der fesche Charmeur. Mal gibt er den Hasardeur, dann agiert völlig kopflos, wenn eine Geschäftsidee nicht klappt. Shirin Eissa ist eine selbstbewusste Waltraut, die sich aufreibt für ihre Familie (Leitspruch: "Leben ist Leiden"), stark ist, aber immer öfter an die Grenzen ihrer Kraft stößt. Es gibt ein zentrales Bild für das ständige Abräumen des Alten und das ständige Neubeginnen-Müssen: Waltraut bezieht das Bett, das wichtigste Requisit, immer wieder neu – schon zu Beginn der zweiten Hälfte liegt ein riesiger Lakenstapel in einer Ecke.
Ein weiteres wichtiges Element der Inszenierung ist die Musik, für die (überwiegend) Matti Weber zuständig ist. Übermütiger Jazz in der Hotelbar in Jerusalem, Schlager ("Die kleine Kneipe" von Peter Alexander), wehmütige Kommentare am Klavier oder an der Gitarre – all das verdichtet die Atmosphäre der Inszenierung.
Was ist das Fazit?
"Solange wir leben" ist in seiner schonungslosen Beschreibung von all den Glücks- und Unglücksfällen, die ein Leben bieten kann, eine emotionale Zumutung und daher ein großer Theater-Glücksfall. Das Publikum stand am Premieren-Sonnabend geschlossen von seinen Sitzen auf, kaum war der letzte Satz verklungen und applaudierte ausgiebig – auch dem Autor des Romans.