Feuer im Kleinen Haus des Theaters Bremen. Erst lodert’s hinten auf der Bühne, dann fliegen die (Video-)Funken dicht vor der ersten Reihe. Böller sprühen, es riecht nach Pulver wie zu Silvester. Wittenberg brennt, Schattengestalten tanzen im Flackerschein: Der Gerechtigkeits- (und Rache-)durst des betrogenen Pferdehändlers Michael Kohlhaas kennt keine Grenzen. "Kohlhaas (No Limits)" hat der Autor und Regisseur Felix Krakau seine Dramatisierung der Novelle Heinrich von Kleists folgerichtig betitelt, er und sein Bühnenbildner, der Videokünstler Florian Schaumberger, nutzen jede Möglichkeit, das Berserkertum dieses "rechtschaffensten zugleich und entsetzlichsten Menschen seiner Zeit" vor Augen zu führen.
Wie weit darf man um seines Rechts willen gehen? Die Frage, die der Staatsbedienstete von Kleist 1808 während der Napoleonischen Kriege stellte, ist zeitlos, seine Bandwurm-Sprache aber nicht die allergeschmeidigste Schullektüre. Krakau, mit "Royals" in Bremen bestens eingeführt, findet eine faszinierende, moderne Form der Vermittlung.
Der Einstieg: In Neon-Großbuchstaben empfängt die Besucher der lateinische Rechtsspruch "Es soll Gerechtigkeit geschehen, und gehe daran die Welt zugrunde" – der Leitsatz Kaiser Ferdinands I. (1503-1564), in dessen Zeit die Erzählung spielt, bringt Kohlhaas’ Intention auf den Punkt. Aus Trockeneisnebel treten vier jugendfrische Gestalten hervor, Ferdinand Lehmann mit kantigem Kurzhaarschnitt, Karin Enzler mit langen Vicky-Leandros-Locken, Lisa Guth mit kesser Stirntolle und Alexander Swoboda mit Vokuhila-Matte. Die schwarz-grau glänzenden Kostüme (Jenny Theisen) vermitteln mit Puffärmeln und Schlaghosen zwischen Renaissance und Moderne.
Das Quartett stimmt das Publikum mit ein paar Verhaltensvorschriften (sogar aus dem Waffengesetz) auf das Thema ein und beginnt – mal im schnellen Wechsel, mal im Chor – die Geschichte zu erzählen und andeutungsweise zu spielen. Die Hauptfiguren schälen sich heraus: Lehmann gibt den Kohlhaas, Guth dessen Frau Lisbeth, Swoboda den treuen Knecht Herse und Enzler den "miesesten Schurken" Junker Wenzel von Tronka.
Die Handlung: Tronka fordert von Kohlhaas, der vom brandenburgischen Kohlhasenbrück (heute Ortsteil von Berlin) zum Markt nach Dresden zieht, unberechtigterweise einen Passierschein und behält dessen zwei Pferde als Pfand, die er ebenso wie den Knecht Herse übel zurichtet. Kohlhaas zieht vor Gericht, seine Eingaben werden aber dank Tronkas guter Vernetzung abgelehnt. Als er selbst als "unnützer Querulant" mit Gefängnis bedroht und seine Frau beim Überreichen einer Bittschrift an den Kurfürsten von einem Wachsoldaten so schwer verletzt wird, dass sie stirbt, übt Kohlhaas Selbstjustiz. Brennt erst Tronkas Burg, dann die Stadt Wittenberg nieder, wohin der Junker geflüchtet ist. Und nimmt dabei den Tod Unschuldiger in Kauf.
Der Text: Krakau behält erzählerische Teile aus der Vorlage bei, fügt aber laufend heutige Kommentare ("Alles wird teurer", "Ich denke, ihr seid quitt") ein und lässt seine Protagonisten in eigenen Texten die moralische und juristische Lage diskutieren. Das chorische Sprechen lockert er durch Dialoge auf, etwa wenn die tote Lisbeth ihrem Gatten im Kostüm Elisabeths I. hinter einem roten Neonrahmen ins Gewissen redet, oder wenn sich der große Martin Luther (Enzler) in den Konflikt einschaltet. Kohlhaas und Luther dürfen ihre Egos auch in zwei Songs vorführen. Sobald der Grundkonflikt klar ist, lässt Krakau viele Kleistsche Winkelzüge weg und spitzt die Debatte mit eigenen Texten zu – bis sich die verwirrten Akteure nur noch darauf einigen können, das Ende zu vermelden: Kohlhaas erfährt Gerechtigkeit, wird aber für seine Verbrechen hingerichtet.
Die Szene: Florian Schaumberger schafft mithilfe kurzer Videosequenzen auf einer Leinwand hinten und einem Gazevorhang vorne Atmosphäre, ob durch schnell wechselnde Farben, ein Pferd im Stall oder das erwähnte Feuer. Verstärkt durch die bedrohlich wummernde Musik von Timo Hein und die Lichtregie von Marius Lorenzen, die Kohlhaas mal freundlich, mal als Nosferatu erscheinen lässt und Schattenspiele ermöglicht. In der letzten Konfusion löst sich die Bühne auf: Drei Scheinwerfer krachen herunter und erlöschen funkenstiebend, einer pendelt am Kabel, einer strahlt ins Publikum. Der Mann, der mit dem Kopf durch die Wand wollte, hat alle Ordnung zerstört.
Die Akteure: Ferdinand Lehmann spielt da eine große Bandbreite an Emotionen aus: Sein Kohlhaas weckt mit sonorer Erzählstimme Sympathien, kann aber ebenso aggressiv nach vorne stürmen. Auch als Sänger ist er eine Wucht. Genau wie Karin Enzler, die zudem vorzüglich die zynischen Seiten des Tronka und die Eitelkeiten eines Luther umsetzt. Lisa Guth verkörpert als sanft-herbe Lisbeth angenehm die Stimme der Vernunft, Alexander Swoboda als mahnender Knecht die Stimme des Volkes. Ein Ensemble, das perfekt ineinandergreift.
Das Ergebnis: Felix Krakau inszeniert einen Kleist für ein Publikum von heute. Eine durchdachte Aufführung, die das Publikum nie allein lässt und sich bestens für Schulklassen eignet. Für alle anderen aber auch.