Herr Bullerdiek, Sie sind Humangenetiker und haben mit der Sopranistin Christine Süßmuth ein Buch über die Wirkung und Faszination von Musik geschrieben: "Warum Musik in unseren Genen liegt". Ein ungewöhnliches Duett. Sind Sie musikalisch vorgeprägt?
Jörn Bullerdiek: Nein, da habe ich ganz wenige Berührungspunkte. Mein Forschungsgebiet ist die Tumorentstehung, speziell Kopf- und Hals-Tumore und aktuell gynäkologische Tumore. Eine Weile habe ich mit Harald zur Hausen zusammengearbeitet, der 2008 den Medizin-Nobelpreis bekommen hat. Aber ich höre gern Musik und habe mich immer schon für Opern interessiert.
Frau Süßmuth hat in Bremen Alte Musik studiert und tritt solistisch und in Ensembles auf. Wie haben Sie sich kennengelernt?
Nicht im Konzert, sondern auf einer Feier bei einer gemeinsamen Freundin. Damals fragte sie mich, ob das absolute Gehör – also die Fähigkeit, aus dem Stand die Tonhöhe bestimmen zu können – vererbbar ist. Das musste ich auch erst nachschlagen. Wir haben uns dann wieder getroffen. Auf einer gemeinsamen Fahrt nach Hamburg hat sie mir sehr viel über alte Stimmungen erzählt. Ich hatte zwar vom "Wohltemperierten Klavier" gehört, aber viel mehr nicht. Meine Neugier war geweckt, wir haben uns dann regelmäßig ausgetauscht.
Klären wir es gleich: Wird das absolute Gehör vererbt?
Es hat stark mit Umwelt und Erziehung zu tun. Man findet das absolute Gehör häufiger bei Menschen, die tonale Muttersprachen wie Chinesisch sprechen. Es hat sicher mit Genetik zu tun, man muss eine gewisse Veranlagung mitbringen. Aber man muss auch in einem frühen Alter an die Musik herangeführt werden. Wenn man dieses Entwicklungsfenster verpasst, hilft die beste Genetik nichts. Christine Süßmuth und ich haben viel diskutiert, ob es überhaupt eine musikalische oder nicht vielmehr eine vergleichende Fähigkeit ist. Denn wenn man einen Referenzton hat, kann ja jeder mit etwas Übung die Tonabstände bestimmen. Von dort kamen wir dann auf konsonante und dissonante Intervalle und die Frage, ob die Empfindung dafür genetisch bedingt ist.
Und, ist sie?
Nein, das ist eine kulturelle Prägung. Wer zum Beispiel mit traditioneller indischer Musik vertraut ist, empfindet unsere Harmonien als dissonant. Man hat einen Stamm im Amazonasgebiet untersucht, der noch nie mit westlicher Musik in Berührung gekommen war: Eine Dissonanz störte diese Hörer gar nicht. Es ist also keineswegs so, dass Vivaldi oder Beethoven überall gleich geschätzt werden. Es hängt davon ab, was unser Gehirn gewöhnt ist.
Zurück zum Buch: Es ist ja in mehrfacher Hinsicht ungewöhnlich. Zuerst einmal, weil sie das Fachwissen in die Gespräche einbetten, die sie führen und mit vielen Anekdoten garnieren. Zum Beispiel, wenn Sie anhand eines Skelettfotos über die Fingerspannweite und die Möglichkeiten des Cembalospielers Johann Sebastian Bach diskutieren oder über ein genetisches Syndrom sprechen, dem der Teufelsgeiger Niccolò Paganini womöglich seine Fingerfertigkeit verdankt.
Nach vielem Lesen und Diskutieren hat einer von uns gesagt: Da könnte man fast ein Buch drüber schreiben. Wir fanden die Dialogform, in der keiner den anderen belehrt, sondern über ungewöhnliche Geschichten mitnimmt, sehr anregend. Als dann der Springer-Verlag auf das Konzept ansprang, waren wir in Zugzwang. Der Mediziner Dietrich Grönemeyer, der Bruder des berühmten Herbert, ermunterte uns ebenfalls – er hat auch das Vorwort verfasst. Frau Süßmuth und ich haben unsere Gespräche dann teilweise so übernommen.
Ebenso ungewöhnlich ist, dass Sie das Ganze in den Bericht von einer einwöchigen Recherchereise nach Neapel und Umgebung einkleiden und an jedem Wochentag ein anderes Thema behandeln. Am Montag geht es etwa um Geschichten, am Mittwoch um Vererbung, am Donnerstag um Tiere – da kommen auch die Bremer Stadtmusikanten vor –, am Sonnabend um Gefühle. Wie haben Sie sich darauf verständigt?
Die strenge, nicht zu wissenschaftliche Gliederung mit stets nur einem Substantiv als Überschrift half uns beim Sortieren. Und in Neapel, der einstigen Welthauptstadt der Musik, finden sich viele Anknüpfungspunkte. Wenn Sie auf den Golf von Neapel gucken, sehen Sie ja mindestens zwei, drei Orte, wo die Sirenen gehaust haben sollen. Also fangen wir klassisch an mit diesen Fabelwesen, die mit ihrem Gesang Menschen in den Tod lockten. Neben Orpheus, der Tiere und die Geschöpfe der Unterwelt mit seinem Gesang bändigt, sind die Sirenen der faszinierendste der vielen Musik-Mythen aus der Antike. Wie kommt es, dass sich ihnen die Menschen trotz der bekannten Lebensgefahr nicht entziehen? Es ist wie mit Zauberflöten oder Militärtrompeten: Bei vielen Genen, die involviert sind, stößt man auf starke Belohnungssysteme, auf Dopamin-Ausschüttung. Der Autor Navid Kermani geht noch weiter mit dem Satz: "Musik lässt uns für ein, zwei Stunden unsere Sterblichkeit vergessen."
Was haben Sie durch die Arbeit am Buch über Musik gelernt?
Mir sind die erstaunlichen Leistungen unseres Gehirns bewusst geworden. Zugespitzt gesagt: Musik entsteht bei uns im Kopf, vorher sind es Schallwellen. Da ist es erstaunlich, wie schnell wir Melodien erkennen – das geht in weniger als einer Sekunde. Ein anderes Beispiel: Auch fürs Chorsingen gibt es eine genetische Komponente. Chorsänger müssen sich einbinden in ein Team, dürfen sich nicht nach vorn drängen. Eine passende Genetik zu haben, hilft dabei, auch das Temperament ist ja genetisch hinterlegt. Allerdings spielen soziale Komponenten ebenfalls eine Rolle, wahrscheinlich sogar die größere.
Sie gehen auch auf die Musik von Singvögeln und Walen ein. Da drängt sich doch die Frage nach den berühmten Kühen auf. Geben die Rindviecher wirklich mehr Milch, wenn sie schöne Weisen hören?
Eine alte Geschichte, in den 1930er-Jahren gab es die ersten Berichte darüber. Damals wurden die Kühe noch mit der Hand gemolken. Man vermutet heute, dass einfach die Melker durch nette Musik ruhiger, ausgeglichener und geduldiger wurden. Beim maschinellen Melken sind die Unterschiede kaum messbar. Wahrscheinlich ist das auch irgendwann ein Pressethema in der Saure-Gurken-Zeit geworden. "Mehr Milch mit Mozart" verkauft sich besser als die von uns erfundene Schlagzeile "Kein Glück mit Gluck".