Jan Lisiecki wirkt zurückhaltend, fast ein wenig scheu, als er die Bühne des großen Glockensaales betritt, sich an den Flügel setzt und einen Augenblick lang innehält. Im nächsten Moment jedoch scheint das Instrument zu bersten unter wuchtigen Bassoktaven der linken Hand. Und unter fast ununterbrochen rauschenden, raffiniert modulierten Arpeggien, die der junge kanadische Pianist bei Frédéric Chopins C-Dur-Etüde op. 10/1 bravourös mit der rechten Hand ausführt.
Der Kontrast zum folgenden Nocturne c-Moll hätte kaum heftiger ausfallen können: Lisiecki spielt seelenvoll, empfindsam, mit weichem, vorsichtigem Anschlag. Mit diesen beiden so unterschiedlichen Stücken hat er quasi die Eckpfeiler seines Chopin-Programms gesetzt. Alle weiteren elf Etüden aus op. 10 trägt er vor. Es sind durchweg höchst anspruchsvolle Kompositionen, bei denen er seine exzellente Spieltechnik demonstriert. Zugleich gelingt es ihm, jedes einzelne Werk interpretatorisch tief auszuloten. Dabei changiert Lisiecki zwischen Springlebendigkeit und furioser Vehemenz, um ein jeweils charakteristisches Klangbild üppiger Farbigkeit zu gestalten.
Im Wechsel mit den mitreißenden Etüden präsentiert er insgesamt elf Nocturnes. Die wunderschönen Nachtstücke erklingen in inniger Zartheit. Lisiecki macht daraus keine schwülstigen Klangschwelgereien, sondern feinsinnig erzählte Geschichten zum Träumen, deren unaufgeregte, fast schon trocken anmutende Schlichtheit des Ausdrucks ungemein fasziniert. Melancholische, düstere Töne mischen sich unter die bisweilen kinderliedhaft anheimelnde Melodik. Lisiecki lässt sie mit wohldosiertem Pedaleinsatz sanft fließen und garniert sie mit subtilen Akzenten. Die teils überraschend aufbegehrenden Fortissimo-Ausbrüche dazwischen münden indes immer wieder in wohligen Frieden. Mit den tosenden Tastengewittern der „Revolutionsetüde“ op. 10/12 setzt der sympathische, vom Auditorium frenetisch bejubelte Pianist einen effektvollen Schlusspunkt.