Beim Telefonieren gedankenversunken ein paar Herzchen auf den Notizzettel malen oder in der Schule den weißen Rand im Matheheft mit einer Karikatur des ungeliebten Lehrers verschönern – die meisten Menschen haben in ihrem Leben wahrscheinlich schon einmal ganz unbewusst etwas geschaffen, das sich in der Kunstwelt im Bereich der Druckgrafik "Remarque" nennt. Auf Deutsch: Randeinfall.
Auch viele große Künstler nutzten im Laufe der Jahrhunderte die noch freien Flächen auf ihren Druckplatten rund um das eigentliche Werk für Skizzen, Ideen und mehr. Allerdings nicht aus Langeweile, was wohl bei Schülern im Matheunterricht der Hauptantrieb für "Randeinfälle" ist, sondern aus ganz anderen Gründen, wie Maria Aresin, Kuratorin der neuen Ausstellung "Jenseits der Mitte. Skizzen am Rande" im Kupferstichkabinett der Kunsthalle bei einem lehrreichen Rundgang erklärt.
Jeden Zentimeter ausnutzen
Im 17. Jahrhundert hatte es zum Beispiel vor allem finanzielle Gründe. Druckplatten waren teuer und wurden häufig in mehrere Teile geteilt. Künstler, wie der Italiener Stefano della Bella (1610 bis 1664), begannen, auch kleinste Reste der Platten für Mini-Kunstwerke zu nutzen und in Serie herauszugeben, erklärt Aresin. Manchmal wurden die Ränder aber auch einfach für Radierproben genutzt, beispielsweise, um die Stärke der Radiernadel zu testen. Zudem war der Freiraum um die Kunstwerke herum ein Ort, um der Kreativität freien Lauf zu lassen. Denn die Hauptmotive selbst waren oft bereits durch die Auftraggeber vorgegeben.
Systematischer wurde das Ganze im 18. Jahrhundert, als Künstler, wie zum Beispiel Daniel Nikolaus Chodowiecki, begannen, erste (Probe)Drucke mit Randfiguren nur in kleiner Auflage für ein Sammlerpublikum zu produzieren, bevor diese für die spätere Auflage wieder entfernt wurden.
Drucke mit kleinen Bildchen auf den Rändern, die mal zum Hauptwerk Bezug nehmen, mal aber auch gar nichts mit ihm zu tun haben, wurden mit der Zeit zu einer Art "Limited Edition", mit der man ganz wunderbar die Preise nach oben treiben konnte, erklärt die Kuratorin. Drucke mit Randzeichnungen in kleiner Auflage zu verkaufen wurde zur Vermarktungsstrategie.
Unter die Lupe genommen
Nach Angaben der Kunsthalle hat es weltweit noch nie eine Ausstellung gegeben, die Remarques in den Fokus des Interesses rückt. Zumindest bis jetzt. Im alten und neuen Studiensaal des Kupferstichkabinetts werden genau diese Randeinfälle wortwörtlich unter die Lupe genommen. Denn einige der über 100 Werke sind so klein, dass das Museumsteam den Besuchern tatsächlich Vergrößerungsgläser an die Hand gibt, um auch die winzigsten Details entdecken zu können.
Die klitzekleinen Arbeiten della Bellas zum Beispiel, die detailreichen Arbeiten des Kupferstechers und Radierers Chodowieckis, die lustige Zeichnung eines Obelisken, der einen Pierrot-Clown verfolgt, von Adolphe Willette, oder die kleine schwarze Katze, die Théophile A. Steinlen als Markenzeichen auf vielen seiner Arbeiten verewigte. Begleitend zur Ausstellung ist zudem ein 80 Seiten starker Katalog erschienen, der die erste wissenschaftliche Aufarbeitung der Geschichte des Randeinfalls in der Druckgrafik enthält.
Nicht selten brachten Künstler auch eine Prise Humor mit in ihre Randskizzen: So zum Beispiel der französische Künstler Jean Veber als er seine etwa um 1900 entstandene Farblithografie "Walpurgisnacht", die zwei nackte, auf einem Besen reitende Frauen zeigt, durch eine kleine Skizze von zwei Männern auf einem Tandem ergänzte, die in genau der gleichen Pose wie die zwei Frauen aus dem Hauptwerk dargestellt sind. Laut Kunsthalle könnte man diese Ergänzung als spöttischen Kommentar zur damaligen Modeerscheinung Tandem verstehen oder zu vermeintlich geschlechterspezifischen Fortbewegungsmitteln.
Seit dem 20. Jahrhundert allerdings haben Remarques in der Kunst an Bedeutung verloren, erzählt Aresin. "Wir hoffen, durch die Ausstellung wieder Interesse am Thema zu wecken." Zu entdecken gibt es in "Jenseits der Mitte. Skizzen am Rande" einiges Bekanntes ebenso wie nie gezeigte Werke – neben vielen anderem werden Arbeiten von Édouard Manet, Edvard Munch, Georges Braque, Heinrich Vogeler, Käthe Kollwitz und Eugène Delacroix ausgestellt.
Wen die Ausstellung motiviert, selbst einmal den Rand mitzudenken und kreativ zu werden, der kann – kleine Besucher ebenso wie große – an einer Mitmachstation mit Stempeln und Stiften eigene Postkarten gestalten.