Zwei Ereignisse, ein Symptom. Am Dienstag, 12. Juni 2018, zeigte die private TV-Station RTL – wie werktags üblich – eine Ausgabe des Mittagsmagazins „Punkt 12“. Ein Beitrag der als Nachrichtenformat ausgeflaggten Sendung befasste sich mit einer aus – vermeintlichen – Pädophilen bestehenden Vereinigung. Ein Reporter des Senders hatte sich als Lockvogel ausgegeben, indem er im Internet die Identität einer 13-Jährigen angenommen hatte. Sein im Netz verabredetes Treffen mit einem – angeblichen – Mitglied des – vorgeblichen – Kinderschänderrings filmte RTL. Gezeigt wurden verpixelte Bilder eines Mannes, der – laut Senderangabe – auffällig agiert haben soll.
Zwei Tage nach Ausstrahlung des Beitrags stürmte ein auf Lynchjustiz sinnender Mob die Wohnung eines Mannes in Bremen-Marßel. Die Angreifer, die ihr Opfer lebensgefährlich verletzten, glaubten offenbar, der Mann sei der von RTL vorgeführte Pädophile. Das lag auch daran, dass das – vermeintliche – Wohnumfeld jenes Mannes unverpixelt zu sehen war, den die Aggressoren für einen Täter hielten. Dabei kam der fälschlicherweise als Sexualstraftäter identifizierte Bremer noch glimpflich davon.
Zuletzt häuften sich tödliche Übergriffe auf – mutmaßliche – Delinquenten, die auf für stichhaltig erachteten Indizien fußten, die in sozialen Netzwerken zusammengeschustert worden waren. Dieser fatale Mechanismus echot nachgerade lehrbuchhaft in einem fiktiven Werk: Thomas Vinterbergs Film „Die Jagd“ (2012) beschreibt auch ohne Online-Komponente eindringlich ein eskalierendes Klima des Verdachts, der Kolportage, der Hatz auf einen Unschuldigen.
Zweiter Fall: Am 22. Juli 2016 tötete der 18-jährige Schüler David S. am 22. Juli 2016 an und in einem Einkaufszentrum in München-Moosach neun Menschen; fünf weitere verletzte er durch Schüsse. Die mit der Aufarbeitung des Falles betrauten Ermittler glauben, dass die Zahl der Opfer geringer hätte ausfallen können, wenn die Polizei am Tag des Amoklaufs aufgrund der Wortmeldung selbsternannter Augenzeugen nicht stundenlang davon ausgegangen wäre, dass drei mit Gewehren ausgestattete Angreifer in der Stadt unterwegs seien.
Entsprechende Meldungen dominierten zunächst die an Hysterie grenzende Berichterstattung über die – angeblichen – Vorkommnisse; zusehends auch und gerade in den sozialen Netzwerken: Immer mehr – vermeintliche – Ohrenzeugen gaben an, sie hätten an verschiedenen Orten der Stadt Schüsse gehört. Immer mehr – vermeintliche – Augenzeugen wollten etwas gesehen haben, das sich später als falsch beziehungsweise nicht existent herausstellte. Selbst wenn man die in der medial befeuerten Erregungsgesellschaft üblichen Trittbrettfahrer und/oder Wichtigtuer abzieht, die bloß behauptet hatten, etwas wahrgenommen zu haben, bleibt eine beunruhigend hohe Anzahl von Menschen, die Gespenster gesehen haben. „Die Wahrnehmungen des Menschen entsprechen nicht immer den Tatsachen“, beschied nach der Münchner Horrornacht – halb lapidar, halb diplomatisch – Rüdiger Holecek, Sprecher der Gewerkschaft der Polizei.
Gespenster der Erregungsgesellschaft
Trompe-l‘Œil heißt eine zumal im Manierismus und im Barock gängige optische Technik, die mit malerischen Mitteln reale Gegenständlichkeit vortäuscht. Doch während dieser illusionistische Kunstgriff, der durch eine perspektivische Darstellung Dreidimensionalität bloß vorgibt, in der Regel folgenlos bleibt, kann das suggestive Potenzial von medialen Darstellungen im 21. Jahrhundert in Tateinheit mit affektiven Faktoren verheerende Konsequenzen haben. Vor allem Stresssituationen können fehlerhaften Wahrnehmungen zuarbeiten, die folgerichtig in falsche Erinnerungen münden. Es kommt mithin zu einer Bildstörung neuen Typs – zumal in der digitalen Ära mit zig alarmistischen Kanälen, die allesamt Aufmerksamkeit beanspruchen, ja absorbieren.
Die Suggestion von Sachverhalten muss nicht einmal planvoll manipulativ sein, um den Tatbestand eines Täuschungsmanövers zu erfüllen. Schließlich nimmt die Emission unausgereifter, noch nicht verifizierter Informationen im hart umkämpften Geschäft mit den Nachrichten signifikant zu. Es handelt sich dabei augenscheinlich um ein Tempo und um einen Grad der Verdichtung, die den menschlichen Geist überfordern. Und doch besteht allenthalben die Gier nach den sozusagen allerneuesten News, die auf eine vermessene Echtzeitutopie versessene Medienmacher offenbar um jenes Präfix bringen wollen, das Nachträglichkeit anzeigt. Was bleibt, ist das Richten – vor jeder Erfahrung, vor aller Analyse. Es ist dies tendenziell der Stoff, aus dem Selbstjustiz gemacht sein kann.
Um eine fehlgeleitete Rezeption abzuwenden, ist der Erwerb von – notabene: zeitgemäßer – Medienkompetenz unabdingbar. Wird derlei eigentlich an deutschen Schulen angemessen gelehrt? Idealerweise würde eine Schulung des Sehens mit Platons Höhlengleichnis beginnen, um feine Unterschiede zwischen Bild und Abbild, Lichtquell, Gegenstand und Schatten zu vermitteln. Ein zweiter Lektüreschritt sollte einem Werk des Philosophen Christoph Türcke gelten: In der kulturhistorischen Studie „Erregte Gesellschaft. Philosophie der Sensation“ (2012) führt der auf ästhetische Phänomene – zumal auf Sehsinn und Schaulust – spezialisierte Denker aus, dass der Begriff Sensation ursprünglich nichts anderes als Wahrnehmung bedeutet hat.
Heutzutage indes ist unter Sensation das zu verstehen, was schier unwiderstehlich Wahrnehmung auf sich zieht: Spektakuläres. Was kein Aufsehen zu erregen vermag, wird hingegen selten bis nie wahrgenommen. Auf diese Weise mutiert das, was früher der Kampf ums schiere Dasein, mithin ums Überleben war, in der dauererregten Sensationsgesellschaft zu einem Kampf um Wahrnehmung, um Aufmerksamkeit. Türckes pessimistische Diagnose, das nervöse Gieren nach Sensationen sei zur zentralen Weltanschauungs- und Weltaneignungsform des modernen Menschen geworden, erhellt zugleich das Kalkül von Krawallmedien: Sie brauchen – und schaffen – Zündstoff für den Unruheherd einer auf skandalträchtige Neuigkeiten erpichten Gesellschaft.