Ob eine Naturkatastrophe ins Reich der Fabel gehört oder nicht, ob sie Fakt oder Fiktion ist, spielt für ihren Nimbus kaum eine Rolle. Siehe Atlantis, Vineta, Rungholt. Denn es sind Narrative, sinnstiftende Erzählungen, in denen sich eine Sage von einstiger Größe und jäher Zerstörung forterbt und verbreitet. Als "Wunde im kollektiven Gedächtnis der Menschheit" bezeichnete der Kulturwissenschaftler Dietmar Kamper den Untergang von Atlantis, diesem mythisch verbrämten Inselreich, das laut Platon um 9600 vor unserer Zeit binnen „eines einzigen Tages und einer unglückseligen Nacht“ unterging.
Markus Bertsch, Kurator an der Hamburger Kunsthalle, legt seinen Finger für die neue Ausstellung des Hauses in viele solcher Wunden: um an faszinierendem Anschauungsmaterial zu zeigen, dass sie nach wie vor schwären; um zu zeigen, wie virulent sie sind; um zu zeigen, dass sie nur schief vernarben können. „Entfesselte Natur. Das Bild der Katastrophe seit 1600“ heißt die spannende Schau. Bis zum 14. Oktober führt sie 200 Werke vor, an denen plastisch, bisweilen auch drastisch ersichtlich ist, wie stark Künstler unsere Vorstellungen davon modellieren, was dem Untergang geweiht ist.
Ästhetik der Krise
Sodom etwa, die verdorbene Stadt. Über sie steht im ersten Buch Mose, dass der gestrenge alttestamentarische Gott sie sogar zu verschonen erwägt, wenn sich darin auch nur zehn Anständige finden. Doch Sodom ist nicht besser als das sündige Gomorra. Das hat Folgen: „Da ließ der Herr Schwefel und Feuer vom Himmel auf Sodom und Gomorra herabfallen. Er vernichtete die beiden Städte und die ganze Gegend, ihre Bewohner und alles, was dort wuchs“, heißt es in der Genesis. Immerhin Lot, dessen Frau sozusagen zur Salzstange mutiert, überlebt; seine Töchter ebenso. Doch der Preis dafür ist verrucht hoch.
Der englische Maler John Martin (1789-1854), Bruder eines Feuerteufels und Chronist nicht nur dieser Katastrophe, hat sich durch Quellenstudium und Imagination ein Bild der Verheerung gemacht: „Die Zerstörung von Sodom und Gomorra“, ein Ölgemälde aus dem Jahr 1852, zeigt ein gewissermaßen formidables Fanal: ein gigantisches Feuer, das in Form gleißender Flammen über gründlich ruinierten Häusern lodert. Zerstörung, so zeigt sich, animiert die Fantasie und gebiert im Idealfall eine spezifische Ästhetik, die den Blick des Betrachters bannt. Wie im Fall eines weiteren Reports, den Martin aus einer diesmal bezeugten Krisenregion erstattet.
Dem abenteuerlich gestimmten Maler, von dessen apokalyptischen Szenarien sich Hollywood-Regisseure viel abschauen können, gerät der Ausbruch des Vulkans Vesuv im Jahr 79 unserer Zeit zum effektvollen Bildspender. Eine ganze Reihe von detailversessenen Gemälden mit nachgerade psychedelischer Farbgebung und spektakulärer Beleuchtung widmet er in den 20er-Jahren des 19. Jahrhunderts dieser enormen Eruption, die Pompeji und Herculaneum unter meterhohen Aschemassen verschüttete.
Die Hamburger Kunsthalle verfügt über generöse Räumlichkeiten, die dem vielfach in Großformaten gezeigten Kataklysmus angemessen sind. Das gilt für die erste Abteilung, die sich neben Sodom auch der Sündflut und dem brennenden Troja (samt Pferd) widmet. Und das gilt auch für die benachbarte Sektion, die der Endzeit gilt – und mit einer beklemmenden Videoinstallation von Christoph Draeger aufwartet, für die Vater und Sohn als letzte Menschen wüstes Land durchqueren.
Viel Platz räumt Kurator Bertsch auch den Elementargewalten ein, die unter anderem einen Deichbruch bei Amsterdam anno 1651 und die Explosion des Pulvermagazins von Delft im Jahr 1654 betreffen. Wie pittoresk Katastrophen bisweilen wahrgenommen werden, führt eine Bildreihe vor Augen, die den „schönsten Ruinen von Lissabon“ nach dem großen Erdbeben (samt Feuer) des Jahres 1753 zugeeignet ist. Eine nachträgliche ästhetische und politische Aufladung erfuhr auch der dem Diktator und Künstler Nero zugeschriebene Brand von Rom im Jahr 64 nach Christus.
Ein Drittel der Innenstadt zerstört
Und sonst so? Erderschütterungen wie der Bergsturz von Goldau (1806 im Kanton Schwyz), nach dem Goethe trotz anderer Talente und Obliegenheiten engagiert zum Pinsel griff. Feuersbrünste, darunter „Das brennende Neubrandenburg“, dem Caspar David Friedrich auf einem Ölgemälde eine fast heimelige Komponente verlieh. Apropos: Friedrichs zackiges „Eismeer“, entstanden 1823/24, ist in seiner Mixtur aus erhabenen und rohen Elementen ein Blickfang der Schau.
Einen weiteren bietet der Raum, der mit „Hamburg brennt“ ausgeschildert ist – und das tagelange Wüten jener Feuerwalze im Mai 1842 nachvollzieht, die Geschichte und Geschicke der Hansestadt bestimmte: Ein Drittel der Innenstadt wurde damals zerstört. Davon künden nicht nur Gemälde, Zeichnungen und Grafiken, sondern auch Vorläufer der Fotografie. Denn drei Jahre bevor Hamburgs Pracht ein Raub der Flammen wurde, feierte eine Abbild-Technologie namens Daguerreotypie Premiere. Damit begann eine spannende neue Ära der Dokumentation von Katastrophen. Aber das ist eine andere Geschichte.
Weitere Informationen
Entfesselte Natur. Das Bild der Katastrophe seit 1600. Hamburger Kunsthalle. Katalog: 29 €.