Herr Antonini, in Bremen kombinieren Sie Werke von Antonio Vivaldi mit denen jüngerer italienischer Komponisten. Vivaldi ist nicht genug?
Giovanni Antonini: Doch. Es ist wegen Patricia. Denn Patricia Kopatchinskaja ist als Solistin sehr stark für zeitgenössische Musik bekannt. Und eine der besten Interpretinnen, die dieses Repertoire dem Publikum kommunizieren kann. Ihr Ziel ist, moderne Werke wirklich musikalisch aufzuführen.
Was bedeutet es, Musik musikalisch aufzuführen. Das ist doch selbstverständlich!?
Nicht unbedingt. Es geht um den persönlichen Beitrag zur Musik. Noten sind ja niemals einfach Noten. Man muss sie mit Leben füllen, sonst könnte die Ausführung auch ein Computer übernehmen. Als wir uns in den frühen 90er-Jahren erstmals Vivaldi zuwandten, gab es kaum stilistische Standards, jedenfalls nicht auf dem Gebiet der historischen Aufführungspraxis. Dort wurde Vivaldi eher gemieden. Wir mussten unsere Maßstäbe selbst erfinden. Nun sind Musiker gern Gefangene ihrer eigenen Prinzipien. Also müssen wir unsere Methoden immer neu zur Diskussion stellen. Genau dafür steht auch Patricia. Ihr Vorgehen würde ich geradezu dekonstruktivistisch nennen.
Das würde Kopatschinskaja aber nicht gerne hören!?
Da wäre ich nicht so sicher. Patricia ist sich der Tatsache hochbewusst, dass ihr Zugang speziell ist. Zu Vivaldi hat sie übrigens, sagt sie, erst durch uns gefunden. Auch ihr war er zuvor fremd. Früher, glaube ich, sind die Musiker viel kreativer, schöpferischer an die Musik herangegangen als heute. Pioniere der Alten Musik, etwa Nikolaus Harnoncourt und Gustav Leonhardt, wollten zu den Quellen zurück und Regeln finden, nach denen die Musik zu früheren Zeiten aufgeführt wurde. Das ist auch richtig so, aber nur die halbe Wahrheit. Musikalische Fantasie bildet die andere Hälfte dieser Wahrheit.
Wirkt deswegen Patricia Kopatchinskaja auf einige Leute leicht verstörend?
Das liegt daran, dass sie die Bräuche und Rituale ein bisschen aufrüttelt, die heutzutage etwas steifer und förmlicher sind, wenn man es mit früheren Jahrhunderten vergleicht. Ich meine damit nicht die Tatsache, dass sie barfuß auftritt. Patricia wurde stark von volksmusikalischen Einflüssen ihrer moldauischen Heimat geprägt. Sie spielt die Geige, als sei sie ein Instrument der Volksmusik.
Mussten Sie sie schon einmal stoppen, weil es Ihnen irgendwie zu viel wurde?
Das könnte vielleicht vorkommen. Ich sage es ihr aber erst später.
Was spricht – wie Sie eingangs angedeutet haben – gegen die Musik von Vivaldi?
Eigentlich weiß ich es auch nicht recht. In meinen Augen ist er einer der größten Komponisten, die ich überhaupt kenne. Allerdings sind nicht alle Werke erstrangig, außerdem muss er gut aufgeführt werden. Er schreibt virtuose Musik und ist doch zugleich sehr einfach. So wie die meiste italienische Musik. Man braucht Temperament. Dann allerdings ist seine Musik ein Wunder.
Liegt in der Einfachheit Vivaldis ein grundsätzlicher Unterschied zum Beispiel zur deutschen Musik?
Das glaube ich schon. Typisch italienisch ist es, mit einfachen Bestandteilen zu arbeiten, die im Ergebnis als solche erkennbar bleiben. Wir wollen ein maximales Resultat mit möglichst minimalem Aufwand erreichen. Die deutsche Barockmusik dagegen, allen voran Bach, ist sehr komplex. Da steckt viel Gedankenarbeit dahinter, bei Bach sogar Zahlenspielerei mit theologischer Bedeutung. Rossini dagegen, ebenso Monteverdi, ist da ganz anders. Volksliedhaft schlicht.
So ähnlich wie in der italienischen Küche, oder?
Absolut. Der Begründer der italienischen Kochkunst, Pellegrino Artusi, hat darüber sogar nachgedacht. Sein Hauptwerk “La scienza in cucina e l’arte di mangiar bene” (Von der Wissenschaft des Kochens und der Kunst des Genießens) sollte 1891 einen Beitrag zur politischen Einheit Italiens liefern. Deswegen war es sinnvoll, dass die Rezepte einfach bleiben. Sie sollten in ganz Italien nachgekocht werden. In Frankreich ist die Küche dagegen völlig anders. Dort versucht man den Eindruck von Raffiniertheit, sogar Kompliziertheit zu erwecken. Bei uns nicht. Alles basiert auf gutem Öl.
Ihre Interpretationen wirken äußerst lebhaft, animiert und sprunghaft. Sind Sie so?
Ja. Ich bin musikalisch auf der Suche nach Kontrasten. Diese Kontraste stiften Lebendigkeit – und Feuer. Die Komponisten selber waren doch meistenteils kleine Teufel. Ich versuche, es auch zu sein. Natürlich ein guter kleiner Teufel, so wie er vielleicht nur in der katholischen Welt denkbar ist. Ich bin nicht religiös. Aber ich glaube, nur in Italien war es früher möglich, dass Priester mit Frauen zusammenlebten.
Sie wechseln während des Konzertes gern die Rollen – und spielen verschiedene Blockflöten. Ihnen ist das lieber so?
Ja, es macht mehr Spaß. Ich spiele jeden Tag immer noch bestimmt zwei Stunden Flöte. Ganz wichtig für mich. Ein Wechsel im Konzert macht die Sache bunter. Und ich kann mich außerdem für ein Instrument einsetzen, das von einigen ja immer noch nicht ganz für voll genommen wird.
Eigentlich könnten Sie die Flöte, wenn es gerade passt, auch als Taktstock benutzen, oder?
Das habe ich auch schon gemacht. Die Zeit, um zum Taktstock zu greifen, reicht oft gar nicht aus. Besonders gut sind dafür Sopranino-Blockflöten geeignet. Sie sind leicht und nicht zu lang.
Als Flötist wissen Sie um die Bedeutung der Atmung in der Musik. Macht das auch bei Instrumentalwerken einen Unterschied?
Und ob. In jeder Musik geht es um den Wechsel von Ein- und Ausatmen. Das ist ein Grundprinzip. Der Eindruck von Flexibilität kommt von nichts anderem als einem richtigen Umgang mit dieser Balance. Alle Musik, könnte man sagen, basiert auf Vokalmusik. Also auf dem Atem.
Was denken Sie, wenn Sie dirigieren?
Ich denke an die Stellen, an denen etwas schiefgehen kann. Wenn ich solche Stellen allerdings quasi herbeifürchte, gehen sie ganz sicher daneben. Also kommt es eher darauf an, das Hirn beim Dirigieren auszuschalten. Bei mir geht das so weit, dass ich manchmal dem Fortgang der Musik hinterherhinke. Die Musiker sind schon weiter. Das sind so Höhepunkte…
Der Kopf ist wichtig, um nicht zu denken?!
Genau das. Das ist ja das Schöne am Dirigieren.
Das Gespräch führte Kai Luehrs-Kaiser.