Herr Nigl, sind Sie der bekannteste Sänger, der mal bei den Wiener Sängerknaben war?
Georg Nigl: Ich bin nicht der Einzige. Der Countertenor Max Emanuel Cencic war früher bei den Wiener Sängerknaben, ebenso die Tenöre Herbert Lippert und Jörg Schneider. Auch aus anderen Bereichen gibt es Ehemalige: Peter Alexander war bei den Wiener Sängerknaben. Reinhard Fendrich ist, glaube ich, nach einiger Zeit wieder rausgeflogen oder von selbst gegangen.
Sind Sie ein typischer Ehemaliger der Wiener Sängerknaben?
Nein, ein untypischer. Zum Beispiel musste ich es mir erkämpfen. Mein Vater war dagegen, während in den meisten anderen Fällen die Eltern dahinter stecken. Mein Vater war Schneider. Ich stammte also, sehr untypisch, aus einer Arbeiterfamilie. Das hat man mich spüren lassen. Außerdem geht’s bei den Wiener Sängerknaben eher um Schöngesang. Mir ist im Laufe der Zeit bewusst geworden, dass ich auf Dauer nicht nur Verschönerungs-Musik machen will.
Bedeuteten die Wiener Sängerknaben für Sie einen Imagegewinn?
Ich hatte im Chor eine ziemlich exponierte Stellung. Das habe ich danach eher verheimlicht. Als ich weggegangen bin von den Wiener Sängerknaben, habe ich in der Schule nichts mehr erzählt von den 28.000 Fanbriefen, die ich bei Japan- und Australien-Tourneen bekommen hatte. Die Sängerknaben basieren auf einer jahrhundertealten Tradition, eher so wie bei den englischen Boarding schools, die man von Harry Potter kennt. In Österreich gab es damals drei heilige Institutionen: die Sängerknaben, die Lippizaner und die Mozartkugel. Seit damals hat sich die Welt aber wahnsinnig verändert.
Sie haben schon damals ständig mit sehr bedeutenden Dirigenten zusammengearbeitet...
Ja, mit Leonard Bernstein, Claudio Abbado, Riccardo Muti und Lorin Maazel. Unter Carlos Kleiber habe ich eine der Knabenrollen in “Carmen” an der Wiener Staatsoper gesungen. Da war ich vielleicht sieben oder acht Jahre alt. Einen entscheidenden Impuls habe ich später durch Nikolaus Harnoncourt erhalten. Durch Harnoncourt habe ich gelernt, dass es auch hässliche Töne geben muss.
Sie wurden vom Knabensopran zum Bariton. Ist das oft so?
Das ist ziemlich typisch. Die Altisten werden meist Tenor. Und die Knabensoprane eher Bariton oder Bass. Inzwischen habe ich mein 30. Bühnenjubiläum hinter mir. Ich habe keine Lust mehr, irgendwie in eine populäre Richtung zu gehen. Gefallen und schön singen musste ich lange genug. Jetzt singe ich neue Sachen.
„Vanitas“, der Titel Ihres Programms in Bremen, meint eine Warnung vor der Eitelkeit der Welt – und gewissermaßen vor uns selbst. Das ist völlig aus der Mode gekommen, oder nicht?
Wohl schon. Ich meine den Titel weniger im Sinne von Vergänglichkeit, so wie uns dies an ewige Wahrheiten des Jenseits erinnern könnte. Sondern im Sinne der eitlen Unbeweglichkeit, die uns davor zurückschrecken lässt, Dinge zu überdenken – und vielleicht einmal anders zu machen.
Können Sie ein Beispiel geben?
Schuberts “Die Forelle”, ein sehr bekanntes Lied über ein Fischlein, dem im Bach aufgelauert wird, glauben wir gut zu kennen. Das ist eitel, durchaus. Der Textdichter des Liedes, Christian Friedrich Daniel Schubart, saß im Gefängnis, was dem Komponisten sehr wohl bewusst war. Das vermeintlich launige, leichtgewichtige Lied hat eine hochpolitische Bedeutung. Es geht um politische Verführung. Das möchte ich hörbar machen. Ich möchte es anders deuten als viele Sänger zuvor.
„Die Taubenpost“, ein Lied aus Schuberts „Schwanengesang“, singen Sie ohne den zugehörigen Zyklus. Warum das?
Der “Schwanengesang” wurde erst nach Schuberts Tod vom Verleger zu einem Zyklus zusammengefügt. Das Programm hat auch persönliche Gründe. Ich war im Sterbehaus Schuberts in der Wiener Kettenbrückengasse, als ich feststellte: Da ist ja gar kein Gold zu sehen und kein Hauch vom feierlichen Wiener Musikverein… Der Zirkus, den wir immer machen und wohl auch brauchen, der war da nicht. Es gibt nicht nur einen einzigen Weg zu Schubert, sondern mehrere.
Begleiten lassen Sie die Werke Schuberts und Beethovens von Olga Pashchenko am Hammerklavier. Was ändert sich dadurch?
Nur damalige Hammerflügel hatten eine spezielle Dämpfung. Die gibt dem Klang ein irisierendes Pianissimo. Ich kann dann sogar flüstern, man hört es immer noch. Das könnte man mit keinem modernen Flügel tun. Also entsteht da eine Intimität, ein Weichheit, ein Zwiegespräch… unvergleichlich.
Sie haben viel Neue Musik uraufgeführt. Singt man Schubert dann anders?
Glaube ich schon. Erst bei lebenden Komponisten habe ich gelernt, dass auch Genies ganz normale Leute sind. Sie wünschen sich zum Beispiel keinen devoten, sondern einen schöpferischen Umgang mit ihren Werken. Demut und all das, das sind zum Teil ja auch fragwürdige Vorstellungen des 19. Jahrhunderts. Beethoven selbst war nicht demütig gegenüber seiner eigenen Musik. Er konnte es nicht sein. Wolfgang Rihm, von dem ich in Bremen “Vermischter Traum” singen werde, sagt immer: “It’s all yours” (Es gehört alles Dir, Anm. d. Red.). Das bedeutet beinahe: ‘Mach was draus!’ Diese Einstellung, welche eine größere Freiheit für den Interpreten mit sich bringt, sollten wir stärker bedenken.
„Vermischter Traum“ wurde von Rihm für Sie geschrieben. Hat er nachgefragt, wie er das tun soll?
Die Geschichte geht so: Als Wolfgang Rihm vor einigen Jahren so krank wurde, kam mir auf irgendwelchen Wegen das besagte Gryphius-Gedicht in die Hände, das mir sehr gefiel. Ich dachte, dass es ihm Kraft geben könnte. Also schickte ich es ihm, aber mit keinerlei Auftrag oder so. Sondern einfach von Freund zu Freund. Dann hat er mir diesen Zyklus geschrieben. Ich sehe bei Rihm immer eine Verbindung zur gesamten Musikgeschichte und singe ihn deswegen umso lieber. Von Mahler gibt es den Ausspruch: “Wenn die Welt einmal untergehen sollte, ziehe ich nach Wien, denn dort passiert alles fünfzig Jahre später.” Dieses Gefühl vermitteln mir auch diese Lieder. Geändert werden musste nichts. Es passte ohnehin.
Könnten Sie von Neuer Musik allein leben?
Ich schätze, dass ich einer der wenigen Sänger bin, bei denen es sich vielleicht rechnen könnte. Ich will es aber nicht.
Angekündigt werden Sie in Bremen als Darsteller von sogenannten „Extremcharakteren“. Entspricht das Ihrem Selbstverständnis?
Nein. Es ist ein Klischee, damit muss man leben. Ich singe ja auch Papageno, Orfeo und Don Alfonso. Das sind keine Extremcharaktere.
Das Gespräch führte Kai Luehrs-Kaiser.