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Theater Bremen "Tschaikowsky macht ein bisschen Hollywood daraus"

Vor der Premiere von Peter Tschaikowskys Oper "Pique Dame" am Theater Bremen verrät Dirigent Yoel Gamzou, was dieses Stück um einen verliebten Spieler heute noch so fesselnd macht.
26.05.2023, 05:00 Uhr
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Von Sebastian Loskant

Herr Gamzou, was reizt Sie an Peter Tschaikowsky? Und was an seiner zweitwichtigsten Oper "Pique Dame", deren Premiere Sie am Sonnabend im Theater Bremen dirigieren?

Yoel Gamzou: Tschaikowsky ist eines der größten Genies, die es je gab. Seine Musik ist eine unglaublich reiche Welt und mit so viel Intensität geladen. Das Besondere an "Pique Dame" ist, dass das Stück eigentlich keine Handlung hat. Interessant ist das absolut gestörte Verhältnis zwischen den Figuren. Die Geschichte ist in der Novelle Alexander Puschkins von 1834, die als Vorlage diente, viel spannender. Tschaikowsky hat ein bisschen Hollywood daraus gemacht, was ich für eine Oper absolut richtig finde. Aber es ist keine "Tosca", es ist kein Thriller.

Es geht um den deutschen Offizier Hermann, einen Außenseiter im St. Petersburger Militär. Um Lisa, die Enkelin einer alten Gräfin, zu gewinnen, möchte er zu Geld kommen. Dafür will er unbedingt der Gräfin das Geheimnis um drei Spielkarten entlocken, die angeblich immer gewinnen. Die Oper spielt – auch musikalisch – auf mehreren Ebenen: Militär, Adel, Geistererscheinungen ... Wie bringen Sie das zusammen? 

Die Psychologie zwischen den Figuren steht im Mittelpunkt, vor allem die vollkommen ungeklärte Beziehung zwischen Hermann und der Gräfin. Die Annahme, er sei in Lisa verliebt und wolle an Geld kommen, um ihr ebenbürtig zu sein, ist eine wunderbare Cover-Story. Aber es gibt wenige musikalische Beweise für eine enge Beziehung zwischen Hermann und Lisa. Was die Musik aber sehr deutlich ausdrückt, ist Hermanns Interesse für die Gräfin. Und zwar nicht nur, weil es um Geld geht. Wie sie sich ihm entzieht, hat auch eine erotische Komponente. Und wenn sie ihm als Geist erscheint, weiß man gar nicht mehr, wie viel in Hermanns Kopf stattfindet und was real ist.

Es geht also im Kern um die Neurosen Hermanns?

Er ist ein enorm verstörtes, zerrissenes Wesen, das gar nicht genau weiß, wonach es eigentlich verlangt. In jeder Szene scheinen ihn drei, vier Vorgänge in verschiedene Richtungen zu ziehen. Insofern ist das Stück sehr aktuell, denn es wirkt wie eine Vorahnung des Kapitalismus und unseres Konsumverhaltens. Wir jagen nach Liebe, wie wir nach Geld jagen – man hält uns wie im Hamsterrad Leckerlis vor, Sehnsüchte, nach denen wir schnappen, ohne sie zu erreichen. Hermann enthumanisiert die Dinge, bis sie nur noch als Geist vorkommen.

Sie sprachen von der Intensität der Musik. Besteht bei Tschaikowsky nicht oft die Gefahr der Übertreibung?

Die größte Herausforderung ist die Balance zwischen Pathos und Distanz. Wenn man sich selbst zu sehr einbringt, kann es unglaublich schnell kitschig und sentimental werden. "Pique Dame" braucht außerdem einen ständigen Antrieb, einen nie aufhörenden Puls, der die Figuren treibt. Dieser Herzschlag ermöglicht es, Stellen auszukosten, in denen die Zeit vollkommen stillsteht, etwa in der Arie der alten Gräfin, wenn sie an die Zeit zurückdenkt, als sie die "Venus von Paris" war – für mich einer der berührendsten Momente überhaupt.

Tschaikowsky, als schwuler Mann ebenfalls ein Außenseiter, hat in Hermann viele eigene Charaktereigenschaften gesehen. Spielt das für die Interpretation eine Rolle?  

Das könnte den Verdacht erhärten, dass Lisa nur eine Alibiliebe ist und Hermann in die alte Gräfin verliebt ist, was genau so ein Tabu wäre wie damals homosexuell zu sein. Aber ich bin vorsichtig mit autobiografischen Deutungen. Ein Stück ist groß, weil es für jeden von uns heute etwas bedeuten kann, weil es in jedem etwas anderes auslöst. Wenn es nur um Biografie ginge, könnte man auch einen Dokumentarfilm ansehen.

Der ukrainische Kulturminister fordert einen Tschaikowsky-Boykott. Was halten Sie davon?

Das halte ich für extrem gefährlich. Kunstverbote spielen der faschistischen Haltung eines Putin genau in die Hände. Das wäre, als ob meine Familie, die ihre Vorfahren im Holocaust verloren hat, keinen Beethoven mehr spielen oder keinen Goethe mehr lesen würde. Kunst gehört immer allen Menschen. Sie hat einen Mehrwert über ihren Schöpfer und seine Zeit hinaus. Das ist genau was Kunst groß macht und warum Kunst eine Antwort geben kann auf alle Kriege, und Menschen über alle Grenzen und Konflikte vereint.

Auch Interpreten geraten in die Kritik. Sollten sich russische Musiker klarer positionieren?

Bei der Verurteilung heutiger russischer Künstler macht man es sich oft zu leicht. Man muss von Fall zu Fall immer beurteilen, da gibt es große Unterschiede. Und es täte uns allen im Westen lebenden Menschen ganz gut, ein bisschen mehr Empathie zu haben. Es ist sehr leicht, im Westen zu sitzen, und Menschen zu kritisieren, die in einem System leben, wo es keine Redefreiheit gibt und wo die Konsequenzen von öffentliche Äußerungen tödlich sein kann. Die Realität ist nämlich nie so einfach, wie wir sie gerne hätten.

Das Gespräch führte Sebastian Loskant.

 

Zur Person

Yoel Gamzou (35), in Tel Aviv geboren, ist in einer Musikerfamilie aufgewachsen. Mit 14 Jahren trat er erstmals als Dirigent auf. Ein Jahr später begann er ein Studium in New York. Vielgerühmt wurde seine Rekonstruktion von Gustav Mahlers unvollendeter 10. Sinfonie. Von 2017 bis 2022 war er Musikdirektor am Theater Bremen, an das er jetzt als Gast zurückkehrt.

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