Er ist männlich, studiert, berufstätig und er lebt nicht auf der Straße – Selbstverständlichkeiten eigentlich, zumindest auf den ersten Blick. Orhan Calisir sieht das anders. Er nennt sich privilegiert, und wahrscheinlich ist sein Blick für Privilegien geschärfter als der, der allermeisten Menschen, die an diesem sonnigen Tag an dem Café, vor dem Calisir gerade sitzt, vorbei in die angrenzenden Neustadtswallanlagen wandern, in Richtung des ehemaligen Hachez-Geländes, von dem aus jahrzehntelang der Duft von Schokolade über die Stadt zog. Calisir hat seinen Cappuccino-Becher längst geleert, jetzt hat er Zeit, über sich und sein nächstes Filmprojekt zu sprechen. "Die Frauen aus der Schokoladenfabrik", ein Film über die türkischen Gastarbeiterinnen, die bei Hachez Pralinen verpackt und die in ihm nun ein Sprachrohr gefunden haben.
Wer gute Reportagen machen möchte, weist dort auf gesellschaftliche Phänomene hin, wo sich ihre Auswirkungen zeigen. Ganz nah dran, im Kleinen, im Beispielhaften, pars pro toto. Orhan Calisir war nie auf einer Journalistenschule, aber er beherrscht sein Handwerk. Lange Zeit war er Hörfunk-Journalist für Radio Bremen und den WDR. "Meine Motivation war immer, die Geschichte der Menschen zu erzählen, deren Stimme man sonst nicht hört", sagt er. Die Geschichte von Arbeitsmigrantinnen wie seine Mutter eine war zum Beispiel, aber nicht nur. Er machte einen Film über die Umgestaltung des Lucie-Flechtmann-Platzes, das ungenutzte Grau der Pflastersteine wurde begrünt und zum Garten für alle. Er porträtierte den Künstler Zülfü Livaneli, der 1971 nach dem Militärputsch in der Türkei inhaftiert wurde und auch Ümmü Yerlikaya, "Tante Ümmü", eine alleinstehende verarmte Rentnerin, die zu stolz ist, Sozialhilfe zu beantragen und deshalb das Obst und Gemüse von ihrer Parzelle auf Bremer Flohmärkten verkauft.
Eine klassische Migrationsgeschichte
Was er nicht macht: Versuchen, das große Geld zu verdienen, obwohl er studierter Ökonom ist. Einmal verstehen, wie alles funktioniert, oder eben nicht, mehr wollte Orhan Calisir damals nicht. Er war schon immer sozialpolitisch engagiert, arbeitete neben dem Studium im Jakobushaus, besser bekannt als Papageienhaus, in der Bremer Bahnhofsvorstadt und betreute dort Wohnungslose. Kontakt zu den alten Kollegen hat er noch immer. In die Wirtschaft gehen? "Käme für mich gar nicht in Frage", sagt Calisir.
Mittlerweile ist es sein täglich Brot, jungen Menschen zu helfen, auf dem Arbeitsmarkt Fuß zu fassen. In einem Bildungszentrum berät er Menschen, bei denen in der Vergangenheit immer irgendetwas schief gelaufen war und die nun Hilfe suchen. "Da sind total gute Leute dabei", sagt er, und: "Ich mache das gerne. Ich freue mich, etwas Nützliches zu machen."
Vielleicht ist die Geschichte von Orhan Calisir so etwas wie eine klassische Migrationsgeschichte. Geboren wird er nahe der türkischen Schwarzmeerküste, von da geht es nach Istanbul und schließlich, er ist damals acht Jahre alt, weiter nach Deutschland. Zu seiner Mutter, die bereits von einer Keksfabrik in Bielefeld angeworben worden war. Ein Jahr später begleitet er regelmäßig andere türkische Frauen zu Dr. Oetker, um ihnen bei der Suche nach Arbeit zu helfen, um für sie bei "ein paar älteren Herren in einer verrauchten Hütte" zu übersetzen.
In den Ferien fahren sie in die Heimat. 2500 Kilometer mit dem Auto, drei, manchmal vier Tage lang entlang der sogenannten Gastarbeiterroute. Hinter München enden die Autobahnen. Es geht weiter entlang der E5, der Europastraße, vorbei an Zagreb, vorbei an Belgrad, bis in die Türkei. "Auf dieser Strecke habe ich Landkarten lesen gelernt", sagt er heute. Als er elf ist, trennt sich die Familie – die Eltern bleiben in Deutschland, Orhan Calisir in der Türkei.
Arbeitsmigranten waren oft nicht akzeptiert
Auch das ist typisch; zerrissene Familien, Kinder in der alten Heimat, die Eltern in der neuen. Orhan Calisir lebt ein Jahr lang bei seinen Großeltern, dann geht er auf ein Internat, macht seinen Schulabschluss. Erst zum Studium kommt er wieder nach Deutschland und bleibt, endgültig. Anders als seine Eltern, die kurz darauf wieder in die Türkei zurückkehren. Viele Arbeitsmigranten wollten oder sollten nur vorübergehend bleiben, viele arbeiteten sieben Tage die Woche und machten Überstunden, um Geld zu sparen, für eine eigene Firma oder einen kleinen Laden in der Heimat. "Und viele sind hier einfach nicht zurecht gekommen", sagt Calisir. "Bis in die späten 90er-Jahre wurden Arbeitsmigranten nicht akzeptiert."
Es ist 1981, Orhan Calisir geht noch in der Türkei zur Schule, da sagt Bundeskanzler Helmut Schmidt, dass es ein Fehler gewesen sei, "so viele Ausländer ins Land zu holen". Es ist 1985, Orhan Calisir ist mittlerweile Student in Deutschland, da warnt der bayrische Ministerpräsident Franz Josef Strauß, man werde bald "die Kanaken im Land haben". Es ist 1992, Orhan Calisir lebt mittlerweile in Bremen, da wird Sahin Calisir auf der A 52 totgefahren, nachdem sein Auto auf der Autobahn vom Wagen eines polizeibekannten Neonazis verfolgt und gerammt worden war. Der bekommt eine 15-monatige Freiheitsstrafe, Orhan verliert seinen Cousin. Anlässlich des 28. Todestags im Dezember 2020 spricht er vor dem Gerichtsgebäude in dem das Urteil gefällt worden war, die Rede ist bei Youtube zu sehen.
Nun also macht er einen Film über die Frauen bei Hachez. Die meisten von ihnen leben noch heute in Bremen und umzu. Die meisten von ihnen haben irgendwann ihre Kinder verlassen, um in Deutschland ihr Glück zu versuchen, oder zumindest genug Geld zu verdienen, um sich in der Türkei eine berufliche Existenz aufbauen zu können. Die meisten von ihnen weinen, wenn sie daran zurückdenken, und die meisten von ihnen würden es trotzdem noch einmal machen. Vielleicht nicht genauso, aber ähnlich. Orhan Calisir kennt die Geschichten. Es ist nicht nur ihre, es ist auch seine, unsere Geschichte, eigentlich, die er erzählen will. Die von fast 900.000 Arbeitsmigrantinnen und -Migranten, die nach Deutschland geholt wurden, um die Wirtschaft am Brummen zu halten und von denen viele noch heute hier leben. Und er muss sich mit dem Erzählen ein wenig beeilen, weil dort hinten, keine 500 Meter von seinem sonnigen Platz vor dem Café entfernt, nur noch wenig an den Chocolatier Hachez erinnert. Und auch dieser Rest wird bald neuen Wohnungen und Gewerbeflächen weichen.